Codex Alera 06: Der erste Fürst
»dich holen komme.«
Die Königin stand reglos wie Stein.
»Wenn ich mit euch fertig bin«, versprach Octavian, »wird von eurer Art nichts mehr übrig sein als Geschichten. Ich werde eure Wohnstätten niederbrennen. Ich werde eure Krieger begraben.« Seine Stimme wurde noch sanfter. »Ich werde euren Himmel verdunkeln. Er wird schwarz vor Krähen sein.«
Gaius Octavians Bild versank mit perfekter, beherrschter Anmut im Wasser.
Dann war er verschwunden.
Der Teich lag sehr still da.
Die Vordkönigin hob die Hände und zog langsam ihre Kapuze hoch. Dann raffte sie den Umhang wieder um sich, obwohl Invidia ganz genau wusste, dass sie so gut wie unempfindlich gegen Wärme und Kälte war. Die Vordkönigin rührte sich mehrere Augenblicke lang nicht – dann stieß sie urplötzlich ein Zischen aus, wirbelte herum, sprang in die Luft und beschwor einen Windstoß herauf, der sie auf den kleinen Wehrhof zutrug.
Invidia rief ihre eigenen Elementare, um der Königin nachzueilen, und holte sie ein, als sie den Wehrhof erreichten. Sie gingen gemeinsam in den Sinkflug und landeten auf dem Hof zwischen den Gebäuden. Die Königin schritt auf eines der Wohnhäuser zu, zerschmetterte die Tür und rauschte hinein.
Invidia stählte sich, während ihr Magen sich in einer gequälten Vorahnung zusammenkrampfte. Sie wünschte diesen armen Wehrhöfern nichts Böses – aber sie konnte nichts tun, um sie vor dem Zorn der Königin zu bewahren.
Ein Krachen ertönte aus dem Innern des Hauses. Dann explodierte eine Wand nach außen, und die Königin schmetterte sich den Weg in die Hütte nebenan frei. Und die nächste. Und die nächste, so schnell, dass keine Zeit für Schreie blieb.
Invidia holte tief Luft. Dann zwang sie sich bewusst, zu dem ersten Haus zu gehen – dem der kleinen Familie, die sie vor Wochen besucht hatten. Invidia hätte die Königin früher am Abend töten können. Wenn sie es getan hätte, wären die Bewohner des Wehrhofs vielleicht nicht gestorben. Das Mindeste, was sie für sie tun konnte, war, sich zu zwingen anzusehen, was sie durch ihre Untätigkeit verursacht hatte.
Steine knirschten unter dem Chitin, mit dem ihre Füße gepanzert waren, als sie näher heranging und den Rauch des Holzfeuers der zusammengewürfelten Familie roch. Sie stählte sich einen Moment für das, was sie sehen würde, und trat dann durch die Haustür.
Der Küchentisch war zerschmettert. Töpfe lagen überall verstreut. Der Boden war von zerbrochenem Geschirr übersät. Zwei Fenster waren eingeschlagen.
Und das kleine Haus war leer.
Invidia starrte einen Moment lang verständnislos vor sich hin. Dann dämmerte es ihr, und sie eilte wieder zur Tür hinaus und ging zum nächsten Haus.
So leer wie das erste.
Sie verließ die Hütte und musterte den Boden. Der Kies, der unter ihren Füßen knirschte, bestand nicht aus Steinen, sondern aus den Kadavern Hunderter Vordhornissen, deren Stachel im Tode ausgestreckt, geborsten, verbogen oder verdreht waren.
Die Vordkönigin stieß ein zorniges Heulen aus, und doppelt so heftig wie zuvor ertönte der Lärm der Zerstörung aus einem weiteren Haus. Binnen Sekunden brach das Gebäude in sich zusammen, und die Königin kam daraus hervor und warf mit einem einzelnen Arm einen Balken, der so dick wie ihr Oberschenkel war, und mehrere hundert Pfund Stein beiseite, während ihre fremdartigen Augen sonderbar aus ihrem wutverzerrten Gesicht hervorblickten.
»Überlistet«, zischte die Königin. » Überlistet . Während ich seinen Worten gelauscht habe, hat er mir meinen Wehrhof weggenommen .«
Invidia sagte nichts. Sie rang darum, ruhig zu bleiben. Sie hatte die Vordkönigin noch nie so wütend erlebt. Nicht, als sie ihrem verräterischen Kind die Eingeweide herausgerissen hatte. Nicht, als Gaius Sextus ihre Armee in Alera Imperia so gut wie vernichtet hatte. Noch nie.
Invidia war sich sehr wohl bewusst, dass sie zu den gefährlichsten Menschen auf ganz Carna gehörte. Sie wusste auch, dass die Vordkönigin sie in Stücke reißen konnte, ohne auch nur außer Atem zu geraten. Sie konzentrierte sich darauf, still und ruhig mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Der Überfall war tadellos verlaufen. Octavian hatte sein Bild nicht nur dort stehen lassen, um Aleranern Zeit zu geben, sich zu versammeln – er hatte es zugleich eingesetzt, um alle Verteidigungsmechanismen rund um den kleinen Wehrhof auszulösen und sie so für die Angreifer sichtbar zu machen. Sobald seine Männer von den
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