Codex Alera 06: Der erste Fürst
wahr.«
Die Vordkönigin legte den Kopf schief und musterte Invidia aufmerksam. Invidia machte sich auf das unangenehme Eindringen des Geists der Königin gefasst – aber es erfolgte nicht.
»Warum dann?«, fragte die Königin.
»Die jüngere Königin hätte mir bestimmt nicht erlaubt, am Leben zu bleiben.«
»Du hättest uns beide angreifen können.«
Invidia runzelte die Stirn. Das traf durchaus zu. Die beiden Königinnen waren so miteinander beschäftigt gewesen, dass sie kaum in der Lage gewesen wären, auf einen Überraschungsangriff von Invidia zu reagieren. Sie hätte das Feuer rufen und sie beide vernichten können.
Aber das hatte sie nicht getan.
»Du hättest fliehen können«, sagte die Königin.
Invidia lächelte schwach. Sie wies auf die Kreatur, die sich um ihre Brust klammerte. »Nicht weit genug.«
»Nein«, sagte die Vordkönigin. »Du hast keinen anderen Ort, an den du gehen kannst.«
»Den habe ich nicht«, pflichtete Invidia ihr bei.
»Wenn man etwas gemeinsam hat«, fragte die Königin, »betrachtet man auch das als Bindung?«
Invidia dachte einen Moment lang über ihre Antwort nach, und das nicht um der Königin willen. »Es ist oft der Beginn davon.«
Die Vordkönigin sah ihre Finger an. Ihre mit dunklen Nägeln besetzten Spitzen waren vom Blut der jüngeren Königin besudelt. »Hast du selbst Kinder?«
»Nein.«
Die Königin nickte. »Es ist … unangenehm mitanzusehen, wenn ihnen etwas geschieht. Irgendeinem von ihnen. Es freut mich, dass du im Augenblick nicht von so etwas abgelenkt wirst.« Sie schaute auf, drückte die Schultern durch und straffte den Rücken – ganz, wie Invidia selbst es getan hatte. »Was schreibt die aleranische Etikette für den Fall vor, dass ein Meuchelmord das Abendessen unterbricht?«
Invidia bemerkte, dass ein kleines Lächeln um ihren Mund spielte. »Vielleicht sollten wir die Möbel reparieren.«
Die Vordkönigin legte wieder den Kopf schief. »Das Wissen fehlt mir.«
»Als meine Mutter gestorben war, hat mein Vater mich jeweils ein Jahr bei den besten Handwerksmeistern der Stadt in die Lehre gehen lassen. Ich glaube, größtenteils, um mich los zu sein.« Sie erhob sich und musterte den beschädigten Tisch, die verstreuten Splitter. »Komm. Das hier ist eine anspruchsvollere Tätigkeit als das Fliegen oder Feuerbeschwören. Ich zeige es dir.«
Sie hatten gerade erst wieder am reparierten Tisch Platz genommen, als die pfeifenden, trillernden Alarmrufe der Wachsspinnen die Luft erfüllten.
Die Königin sprang sofort mit weit aufgerissenen Augen auf. Einen Moment lang stand sie völlig reglos da und zischte dann: »Eindringlinge. Überall. Komm.«
Invidia folgte der Königin hinaus in die mondhelle Nacht, auf das sanft leuchtende Kroatsch , das sich um das gewaltige Nest erstreckte. Die Königin begann mit schnellen, beherrschten Schritten bergab zu gehen, während der trillernde Alarm sich weiter ausbreitete.
Invidia hörte ein zorniges, schrilles Summen, das anders als alles klang, was ihr bisher begegnet war. Das Geschöpf an ihrer Brust reagierte beunruhigt darauf, verschob seine vielen Gliedmaßen und ließ so quälende Schmerzen in einem Feuer, das Invidia den Atem zu verschlagen drohte, durch ihren Körper strömen. Sie mühte sich ab, weiter im Schatten der Königin zu gehen, ohne zu stolpern, musste aber am Ende die Hand auf ihr Messer legen und schmerzstillendes Metallwirken einsetzen, um weiterlaufen zu können.
Sie kamen zu einer breiten Wasserfläche, die sich in der Mitte eines flachen Tals gesammelt hatte. Diese war nicht mehr als einen Fuß tief und vielleicht zwanzig breit. Das flache Wasser wimmelte vor Fängerlarven.
Auf der Wasseroberfläche stand in der Mitte des Teichs ein Mann.
Er war hochgewachsen, mindestens einen halben Kopf über sechs Fuß groß, und in eine glänzende, makellose Legionare rüstung gekleidet. Sein Haar war dunkel und wie unter Soldaten üblich kurz geschnitten, sein Bart ebenfalls. Er hatte leuchtend grüne Augen. In seinem Gesicht waren zarte Narben zu sehen, und an ihm wirkten sie ebenso sehr wie militärischer Schmuck wie der scharlachrote Mantel, der mit dem blauen und scharlachroten Adleremblem des Hauses Gaius an seiner Rüstung befestigt war.
Invidia sog scharf die Luft ein.
»Wer?«, fragte die Königin.
»Er … er sieht aus wie …« Septimus. Abgesehen von den Augen glich der Mann in der Mitte des Teichs ihrem ehemaligen Verlobten bis aufs Haar. Aber er konnte es nicht
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