Codex Alera 06: Der erste Fürst
aufgespannte Leinwandmatratze mit seinem Gewicht zum Durchhängen brachte. Marcus’ Herz raste angesichts der Überraschung. Reglos stand er da, eine Hand an das Heft seines Gladius gelegt. Ein paar Sekunden lang musterte er den Cane, dann fragte er mit gesenkter Stimme: »Sha, nicht wahr?«
Der Cane mit dem rötlichen Fell neigte den Kopf. »Eben der.«
Marcus brummte. Dann setzte er erneut an, die Schnallen seiner Rüstung zu lösen. Wenn Sha vorgehabt hätte, ihm Schaden zuzufügen, hätte er das längst getan. »Ich nehme an, dass du nicht auf der Jagd bist.«
»So ist es«, sagte der Cane. »Es wäre vorteilhaft für Tavar, bestimmte Tatsachen zu kennen.«
»Warum gehst du dann nicht zu ihm, um ihm davon zu erzählen? Oder schreibst ihm einen Brief?«
Sha klappte die Ohren lässig zu einer Seite, eine Geste, die an ein aleranisches Schulterzucken erinnerte. »Es handelt sich um Interna. Kein ehrenhafter Cane könnte sie guten Gewissens einem Feind enthüllen.« Die Zähne des Jägers waren kurz in einem weißen Aufblitzen zu sehen. »Und ich konnte Tavar nicht erreichen. Er war mit einem Paarungsritual beschäftigt und schwer bewacht.«
»Und du hast mich schon einmal heikle Informationen weiterleiten lassen«, sagte Marcus.
Sha nickte erneut.
Marcus nickte. »Erzähl es mir. Ich werde sicherstellen, dass er davon erfährt.«
»Wie viel weißt du über unsere Blutsprecher?«
»Die Ritualisten?« Marcus hob die Schultern. »Ich weiß, dass sie mir nicht besonders gefallen.«
Shas Ohren zuckten vor Heiterkeit. »Sie sind für unsere Gesellschaft wichtig, da sie den Erzeugern dienen.«
»Erzeugern«, sagte Marcus. »Euren Zivilisten.«
»Sie erzeugen Nahrung. Häuser. Werkzeuge. Waffen. Schiffe. Sie sind das Herz und die Seele meines Volkes und der Grund dafür, dass es Krieger wie meinen Herrn gibt. Ihnen dienen die Krieger wie mein Herr eigentlich, und sie zu hegen und zu beschützen hat er geschworen.«
»Ein zynischer Mann«, sagte Marcus, »würde darauf hinweisen, wie sehr dieser Dienst an eurem Volk der Herrschaft darüber zu ähneln scheint.«
»Und ein Cane würde Zynismus in diesem Zusammenhang lediglich als eine Form von Feigheit betrachten«, antwortete Sha ohne Groll, »als Entscheidung, ohne Redlichkeit zu denken und zu reagieren, aus der Annahme heraus, dass andere dasselbe tun werden. Wann hast du Varg je etwas anderes tun sehen, als danach zu streben, sein Volk zu schützen?«
Marcus nickte. »Das ist wahr.«
»Die Krieger leben nach einem Ehrenkodex, anhand dessen sie den Wert ihres Lebens beurteilen. Wenn ein Krieger vom Kodex abweicht, ist es die Pflicht der anderen, ihn dafür zur Rechenschaft zu ziehen – und ihn wenn nötig eher zu töten, als ihm zu gestatten, seine Befugnisse zu überschreiten. Varg respektiert den Kodex.«
»Welches Verhältnis besteht zwischen den Ritualisten und den Erzeugern?«, fragte Marcus.
Sha bleckte wieder die Reißzähne. »Überwiegend ein feiges. Auch sie sollen die Diener der Erzeuger sein. Ihre Fähigkeiten sollen dazu dienen, die Erzeuger vor Krankheiten und Verletzungen zu bewahren. Unsere Kinder zu schützen, wenn sie geboren werden. Rat und Trost in Zeiten des Verlusts zu bieten. In Streitigkeiten gerecht zu vermitteln und die Wahrheit herauszufinden, wenn sie unklar ist.«
»Ich habe sie ihre Fähigkeiten bisher nur im Krieg einsetzen sehen.«
Sha stieß ein leises Knurren aus. »Die Fähigkeiten der Blutsprecher sind von Blut abhängig. Sie werden von ihm genährt. Das weißt du schon.«
»Ja«, sagte Marcus.
»Es gab eine Zeit, in der es als etwas Monströses galt, wenn ein Blutsprecher irgendwelches Blut außer seinem eigenen einsetzte – genauso, wie es bei jedem Krieger als widerwärtig empfunden wird, wenn er andere Krieger in die Schlacht schickt, ohne selbst fähig und willens zu sein zu kämpfen.«
Marcus runzelte die Stirn. »Das würde aber dem, was ein beliebiger Ritualist bewirken kann, recht enge Grenzen setzen, nicht wahr?«
»Außer in Zeiten großer Not«, knurrte Sha, »oder wenn er bereit war, für das zu sterben, wovon er glaubte, dass es getan werden müsste. Dementsprechend waren die Kräfte der Blutsprecher hochangesehen. Ihre Taten und Opfer betrachteten sogar ihre Feinde mit Ehrerbietung. Die Tiefe der Ergebenheit und Aufrichtigkeit eines Blutsprechers stand außer Frage.« Sha schwieg einen Moment lang. Dann sprach er in distanzierterem, geschäftsmäßigerem Ton weiter: »Vor einigen Generationen
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