Codex Alera 06: Der erste Fürst
auf dieselbe Weise zu erwidern. »Es ist gut, redliche Feinde zu haben.«
Shas Ohren zuckten wieder amüsiert. Dann zog der Jäger die Kapuze seines dunkelgrauen Umhangs hoch, um seinen Kopf zu bedecken, und schlüpfte aus dem Zelt. Marcus hielt es nicht für nötig, sich zu vergewissern, dass er einen sicheren Weg aus dem Lager der Ersten Aleranischen Legion hinausfand. Sha war mühelos genug hereingekommen – was wiederum bewies, dass Varg nicht hinter dem Anschlag auf Octavian gesteckt hatte. Wenn es Jägern gelungen wäre, nahe an Octavian heranzukommen, dann hätte er nach ihren früheren Leistungen zu urteilen die Erfahrung nicht überlebt, trotz des Elementarwirkens, das er sich im Laufe des letzten Jahrs anzueignen verstanden hatte. Die Wahrscheinlichkeit war ausgesprochen hoch, dass auch Marcus nicht überlebt hätte.
Er seufzte und rieb sich mit der Hand das kurzgeschorene Haar. Er hatte sich auf einen vergleichsweise langen Nachtschlaf gefreut, zumindest im Vergleich zu dem, was er in letzter Zeit bekommen hatte. Shas Besuch hatte zumindest diese Möglichkeit gründlich gemeuchelt, wenn auch nichts anderes.
Er murmelte etwas in seinen Bart und legte die Rüstung wieder an, was mit Hilfe weitaus leichter gewesen wäre als allein. Aber es gelang ihm. Während er sich anzog, erfolgte schlagartig ein heftiger Wetterumschwung: Ein kalter Wind kam aus dem Norden heruntergeheult. Er ließ die Leinwand seines Zelts laut knallend flattern, und als Marcus ins Freie kam, fühlte der Wind sich an, als würde er geradewegs den Abhang eines Gletschers herabfegen.
Marcus runzelte die Stirn. Das passte nicht in die Jahreszeit, noch nicht einmal im kühlen Norden. Der Wind selbst roch nach Winter. Er verhieß Schnee. Aber es war viel zu spät im Jahr, als dass so etwas hätte geschehen können. Es sei denn …
Es sei denn, Octavian hatte irgendwie Gaius Sextus’ Begabungen in vollem Umfang geerbt. Doch das war unmöglich. Der Hauptmann hatte keine Zeit zum Üben gehabt, auch keinen Lehrer, der ihn in jene tiefen Geheimnisse des Elementarwirkens hätte einweihen können, die es Gaius Sextus erlaubt hatten, so häufig und ganz nebenbei die Talente jedes anderen Hohen Fürsten um eine Stufe zu übertrumpfen.
Elementarwirken schön und gut – aber kein einzelner Mensch konnte den Frühling in einen verdammten Winter verwandeln. Das war einfach nicht möglich.
Graupelkörner stachen Marcus ins Gesicht. Sie raunten gegen seine Rüstung wie Tausende kleiner, machtloser Pfeilspitzen. Und die Lufttemperatur fiel weiter. Binnen weniger Momente hatte sich Raureif auf dem Gras und auf dem Stahl von Marcus’ Rüstung zu bilden begonnen. Das konnte einfach nicht sein – aber es geschah.
Octavian war natürlich nie sonderlich belehrbar gewesen, wenn es um Unmögliches ging.
Aber, bei den großen Elementaren – warum nur hätte er so etwas tun sollen?
Als Marcus in die Lagergasse einbog, die zum Kommandozelt der Legion führte, traf er Octavian und seine Wachen, die schnellen Schritts ebenfalls auf dem Weg dorthin waren.
»Erster Speer«, sagte der Hauptmann. »Ah, gut. Es wird Zeit, die Männer hochzuscheuchen. Wir brechen in einer Stunde zum Sammelpunkt auf.«
»Zu Befehl, Hauptmann«, antwortete Marcus und salutierte. »Ich muss dich bitten, mir einen Augenblick dein Ohr zu leihen, Hauptmann – unter vier Augen.«
Octavian zog eine Augenbraue hoch. »Na gut. Ich kann einen Augenblick erübrigen, aber danach will ich, dass du dich darauf konzentrierst, die Erste Aleranische zu unserem Abmarschplatz zu bringen.«
»Zu Befehl, Hauptmann«, antwortete Marcus. »Der wo liegt, Hauptmann?«
»Ich habe ihn auf einer Karte für dich markiert. Nördlich von hier.«
Marcus runzelte die Stirn. »Hauptmann? Nördlich von hier gibt es nur die Schildmauer und das Gebiet der Eismenschen.«
»Mehr oder minder«, sagte Octavian. »Aber wir haben ein paar Veränderungen vorgenommen.«
Bis zum Mittag des Folgetags hatte die gesamte Erste Aleranische Legion zusammen mit der Freien Aleranischen und den Canimkriegern die Schildmauer erreicht, die zehn Meilen nördlich der Stadt Antillus lag. Der Boden war schon von drei Zoll Schnee bedeckt, und die weißen Flocken fielen dicht und stetig. Wenn es mitten im Winter gewesen wäre, hätte das der Jahreszeit entsprechend langanhaltende Schneefälle verheißen.
Aber diese eine Unmöglichkeit war dem Hauptmann offenbar noch nicht genug gewesen.
Marcus hatte jahrelang in den
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