Codex Alera 06: Der erste Fürst
entdeckten die Blutsprecher, dass ihre Kräfte noch viel größer waren, wenn sie auf das Blut anderer zurückgriffen – je mehr Einzelpersonen, desto mächtiger das Blut. Zuerst baten sie um Freiwillige – eine Möglichkeit für Erzeuger, an der Ehre und dem Opfer des Dienstes der Blutsprecher teilzuhaben. Aber einige von ihnen begannen, im Krieg das Blut ihrer Feinde zu nehmen und die Macht, die sie daraus zogen, in den Dienst ihrer eigenen Kriegskräfte zu stellen. Es wurde behauptet, dass die Canim so der Notwendigkeit, Krieger zu haben, entwachsen wären. Viele Jahre lang versuchten die Blutsprecher, die Krieger zu beherrschen – um sie dazu einzusetzen, andere wann immer möglich zu ängstigen und einzuschüchtern und um sie in Kriegszeiten als Blutsammler zu benutzen. In manchen Gebieten hatten die Blutsprecher damit Erfolg, in anderen weniger. In manchen gelang es ihnen nie, an die Macht zu kommen.«
»Warum sind die Krieger nicht einfach gegen sie vorgegangen?«
Sha wirkte, als ob ihn schon der bloße Vorschlag entsetzte. »Weil sie die Diener der Erzeuger sind, wie wir auch, Dämon.«
»Anscheinend ja nicht«, sagte Marcus.
Sha winkte ab. »Der Kodex verbietet es, solange sie sich nicht der übelsten Exzesse schuldig machen. Viele Blutsprecher haben sich auch gar nicht für den Neuen Weg entschieden. Die Anhänger des Alten Wegs haben weiterhin den Erzeugern gedient und viel Gutes bewirkt. Sie haben versucht, ihre Brüder von der Richtigkeit ihres Standpunkts zu überzeugen.«
»Ich schätze, das ist nicht gut gegangen«, sagte Marcus trocken.
»Ein Blutsprecher, der seiner Berufung treu bleibt, hat wenig Zeit, um sich um Politik zu kümmern, besonders in diesen Tagen«, antwortete Sha. Er beugte sich leicht vor. »Die, die den Alten Weg verachten, haben alle Zeit, die sie brauchen, um zu intrigieren, Ränke zu schmieden und den Erzeugern Halbwahrheiten weiszumachen, um ihre Unterstützung zu erringen.«
Marcus verengte die Augen. »Wenn ich recht verstehe, steckt einer dieser Anhänger des Neuen Wegs hinter dem Angriff auf Octavian.«
»Wahrscheinlich«, sagte Sha. »Zwei Erzeuger wurden überredet, den Versuch zu unternehmen.« Seine Lefzen lösten sich in einem Ausdruck, der für Marcus nach Ekel und Zorn aussah, von seinen Zähnen. »Das ist ein unentschuldbares Vergehen.«
Marcus streifte seine Rüstung ab und stapelte die vier schalenartigen Panzerteile aufeinander, bevor er sie unter sein Bett schob. »Aber Varg kann nichts dagegen unternehmen?«
»Nicht, solange er sich an den Kodex hält«, antwortete Sha. »Es gibt unter den Blutsprechern immer noch Anhänger des Alten Wegs, die Respekt verdienen. Aber sie sind wenige und verfügen nicht über die nötige Macht, um ihresgleichen zur Rechenschaft zu ziehen – wenn der fragliche Cane denn überhaupt für das einstehen würde, was er getan hat, statt es zu leugnen.«
»Wenn dieser Cane stirbt, was würde sich daraus ergeben?«, fragte Marcus.
»Wenn sein Mörder bekannt wäre, würde das für Empörung unter den Erzeugern sorgen. Sie sehen nicht, ob und wie er sie verraten hat. Einer seiner Speichellecker würde wahrscheinlich seinen Platz einnehmen.«
Marcus knurrte: »Austauschbare Korruption ist das schlimmste Problem in jedem Amt. Das kennen wir hier auch.« Er dachte einen Moment lang darüber nach. »Was wünscht sich Varg von Octavian?«
»Mein Herr wünscht sich gar nichts von seinem Feind«, sagte Sha steif.
Marcus lächelte. »Bitte verzeih meine unglückliche Formulierung. Was wäre in dieser Situation für jemanden wie Varg eine ideale Reaktion von jemandem wie Octavian?«
Sha neigte anerkennend den Kopf. »Für den Augenblick, sie zu ignorieren. Weiterzumachen, als ob die Bedrohung kein Anlass zu besonderer Sorge wäre. Wenn noch mehr Canim von den Dämonen erschlagen würden – ganz gleich, wie schuldig sie wären und wie sehr sie es verdient hätten –, dann wäre das nur noch mehr Wasser auf den Mühlen der Blutsprecher.«
»Hmmm«, machte Marcus nachdenklich. »Wenn er nichts tut, hilft er, den Einfluss der Blutsprecher zu untergraben, während Varg nach einer internen Lösung sucht.«
Sha neigte wieder den Kopf und stieg vom Feldbett. Der hünenhafte Cane bewegte sich vollkommen lautlos. »Es ist gut, mit Leuten zu sprechen, die eine rasche Auffassungsgabe haben und fähig sind.«
Marcus ertappte sich dabei, über dieses Kompliment ohne offensichtliche Quelle oder Ziel zu lächeln, und beschloss, es
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