Codex Mosel
signalisierte ihm deutlich die Gefahr. Hier stimmte etwas nicht! Der Schaffner war nicht wieder aufgetaucht. Vielleicht hatte er die Polizei informiert und diese bereitete eine Festnahme vor, indem sie irgendwo auf offener Strecke die Gleise umstellte und den Zug stoppte. Oder sie erwartete ihn im Bahnhof von Nancy.
Der Zug passierte eine große Fabrik mit einem beleuchteten Parkplatz, auf dem Hunderte Autos standen. Es folgten weitere Industriegebäude und etwas, das wie ein großes Einkaufszentrum aussah. Das musste bereits die Peripherie von Nancy sein. Bernard eilte ins Abteil zurück, wo die beiden Sportfreunde stinkende Zigarillos rauchten. Bernards Lächeln schien eher wie eine Drohung aufgefasst zu werden, denn die Männer setzten sich augenblicklich gerade hin und zogen ihre ausgestreckten Beine an den Körper heran, um Bernard Platz zu machen, der den Trolley zur Tür rollte.
Kaum war er aus dem Abteil, setzten bereits die Bremsen ein. Er hastete den Gang entlang, den auf einem Rad schlenkernden Trolley hinter sich herziehend und erreichte den Türkorridor, als der Zug die letzten Meter bis zum Stehen abbremste. Als Bernard hinausspähte, sah er nur wenige Leute auf dem Bahnsteig. Er betrachtete argwöhnisch jeden einzelnen von ihnen, ob es sich um einen Polizisten handeln könnte.
Im Gegensatz zu dem Regionalexpress hatte der Zug, der um 22.14 Uhr in Nancy abgefahren war, bis Metz keinen Zwischenstopp einzulegen. Der Lokführer hatte lediglich Anweisung, in vier auf der Strecke liegenden Bahnhöfen die Geschwindigkeit auf neunzig Kilometer zu senken.
Eigentlich hatten die beiden Polizisten genügend Zeit eingeplant, um den Zug um zweiundzwanzig Uhr fünfunddreißig zu erreichen, mit dem ihr Kollege vom Spätdienst aus Metz kam, um ihnen die begehrten Karten für das Lokalderby zwischen dem FC Metz und dem AS Nancy auszuhändigen. Keine zwei Stunden nach Beginn des Vorverkaufs waren alle Tickets restlos vergriffen gewesen.
Den betrunkenen Mofafahrer, der vom Markt kommend in die Rue Saint-Laurent einbog und dort frontal mit einem Renault Clio kollidierte, konnten sie allerdings nicht einfach liegen lassen. Bis der Notarzt kam und die Kollegen, die den Unfall aufnehmen sollten, endlich eintrafen, blieben den beiden Flies nur noch zwei Minuten, um den Zug zu erreichen.
An den bescheidenen Dimensionen der Gebäude und Bahnsteige erkannte Bernard, dass es sich keinesfalls um den Bahnhof von Nancy handeln konnte. Es musste ein Vorort sein, in den der Zug einlief. Sein Waggon kam gegenüber dem Bahnhofsschild zum Stehen. Zwei Polizisten eilten im Laufschritt herbei.
Bernards Blick wechselte von den beiden Uniformierten zum Schild darüber, auf dem,Pont-à-Mousson’ stand. Die Türen öffneten sich. Als spüre er etwas in seinem Rücken, sah sich Bernard um. Ein Polizist stand hinter ihm im Gang in der kleinen Schlange der Wartenden. Er hielt einen Zettel hoch und gab den beiden Kollegen auf dem Bahnsteig ein Zeichen. Bernard blieb keine Zeit zum Nachdenken. Jemand drängelte hinter ihm. Er wich zur Seite aus, hastete zur gegenüberliegenden Tür, zog den Hebel, er gab nach. Er riss die Tür auf, schaute zurück. Die Leute waren stehen geblieben und starrten ihn an. Mit der linken Hand hielt er sich an der Tür fest, mit der rechten umklammerte er den Griff des Trolleys. Vor ihm war es stockdunkel. Bernard machte einen Schritt von der letzten Stufe hinunter auf den Schotter. Es war viel tiefer, als er gedacht hatte. Im Fallen ließ er das Gepäck los. Seinen rechten Fuß durchfuhr ein Schmerz, als sei er in ein Messer getreten. Irgendwie bekam er den Griff des Trolleys wieder zu fassen.
Zuerst konnte Bernard das Kreischen nicht einordnen. Als er aufschaute, sah er das Ungetüm mit blendendem Scheinwerfer auf sich zurasen. Er rappelte sich auf, schrie vor Schmerz und Panik, seine Füße rutschten auf dem Geröll weg. Er trat auf eine Schwelle, blieb an einer Schiene hängen, ließ den Koffer los.
Vor Pont-à-Mousson schaute der Lokführer des Schnellzugs Richtung Metz auf die Uhr: 22.38, genau wie im Plan vorgesehen. Er drosselte die Geschwindigkeit und hob die Hand zum Gruß an die Kollegen, als er die Lok des in Gegenrichtung im Bahnhof stehenden Regionalexpress passierte. Die Hand blieb in der Luft hängen, seine Kinnlade klappte nach unten. Er raste auf eine offen stehende Tür zu, aus der ein Mensch fiel. Eine Zehntelsekunde später betätigte er die Bremsen und stützte sich mit
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