Codex Mosel
beiden Händen an den Armaturen ab. Die Fliehkräfte waren so gewaltig, dass er glaubte, alle Waggons schöben sich in seinen Rücken. Starr vor Schreck beobachtete er, wie sich der Mensch aufrappelte und versuchte, über die Schienen zu kommen.
Der Lokführer schloss reflexartig die Augen. Durch sein Schreien und das Kreischen des Zugs hörte er, wie etwas gegen die Lok schlug. Die tonnenschwere Maschine ruckelte, als sie über das Hindernis auf den Schienen hinwegrollte.
Es brauchte noch weitere zweihundert Meter, bis der Zug endlich zum Stillstand kam.
*
Zwei Beamte in Zivil hatten aus dem Bahnhofsgebäude heraus die Ankunft des Zuges beobachtet. Sie waren hier für den Fall, dass die Zielperson schon vor Nancy aussteigen sollte. Die beiden Männer konnten nicht mehr verhindern, dass die beiden uniformierten Kollegen in dem Moment auf den Bahnsteig liefen, als der Zug in Pont-à-Mousson einfuhr.
Durch die aufgeregten Schreie und das Kreischen der Notbremse des entgegenkommenden Zuges aufgeschreckt, rannten sie nun ebenfalls auf den Bahnsteig.
Auf Höhe der Waggontür, wo sich das Geschehen ereignet hatte, mussten sie sich durch eine Menschentraube zwängen. Es dauerte eine Weile, bis die uniformierten Kollegen ihnen, obwohl sie Augenzeugen waren, brauchbare Auskünfte geben konnten. Sie standen unter Schock, wie viele der Reisenden, die teils wild gestikulierend miteinander sprachen, teils stumm auf einer Bank auf dem Bahnsteig saßen.
Die beiden Beamten in Zivil waren sichtlich erleichtert, als der Rettungswagen und bald darauf weitere Kollegen eintrafen.
*
Der Hubschrauber kreiste über Pont-à-Mousson. Walde sah auf den Gleisen die beiden nebeneinander stehenden Züge. Die vielen Fahrzeuge um den Bahnhof ließen keinen Platz für eine Landung. Sie flogen weiter Richtung Mosel. Schließlich setzte der Helikopter auf eine freie Fläche auf, die sich nach dem Aussteigen als eine Art Marktplatz herausstellte.
Eric Theis, Gabi und Walde mussten zu Fuß weiter. Auf dem Weg zum Bahnhof wurden sie von Schaulustigen begleitet, die durch die Sirenen der immer noch eintreffenden Einsatzfahrzeuge angelockt wurden.
Am Bahnhof angelangt, überließen es Walde und Gabi Erik Theis, den Kontakt zu den französischen Kollegen herzustellen. Es dauerte mehr als zwanzig Minuten, bis er mit der Nachricht zurückkam, dass lediglich ein zerfetzter Koffer gefunden worden war. Der gesamte Gleiskörper werde nochmals abgesucht und alle Fahrgäste der beiden Züge kontrolliert, um sicherzugehen, dass die Zielperson das Durcheinander nicht dazu genutzt hatte, sich unter die Passagiere des in Gegenrichtung fahrenden Zuges zu mischen.
»Das heißt, unser Mann hat über eine halbe Stunde Vorsprung«, stellte Gabi fest. »Das darf doch nicht wahr sein.«
»Die Fahndung läuft, der Ort wird durchkämmt, Straßensperren werden errichtet, er kann noch nicht weit weg sein.«
*
Monique Weber hatte bis in die späten Abendstunden an den Monatsrechnungen für die Dauerkundschaft ihres Reinigungsunternehmens gesessen. Obwohl morgen Samstag war und die meisten Firmen die Post erst wieder am Montag bearbeiten würden, wollte sie die Briefe jetzt noch auf den Weg bringen.
Sie parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Briefkastens in der Rue Victor Hugo, der zum letzten Mal für den heutigen Tag um dreiundzwanzig Uhr geleert wurde. Als sie ausstieg, achtete sie darauf, dass die hohen Absätze ihrer Stöckelschuhe nicht den Halt auf dem glitschigen Pflaster verloren. Bevor sie die Straße überqueren konnte, musste sie einen mit hoher Geschwindigkeit heranbrausenden Rettungswagen passieren lassen. Sie schob die Briefumschläge unter die Jacke, um sie vor dem stärker werdenden Regen zu schützen. Erst kurz vor dem Kasten nahm sie sie wieder hervor und kontrollierte beim Einwerfen, ob sie alle Briefe frankiert hatte.
Als sie sich umdrehte, um zurück zu ihrem Wagen zu gehen, musste sie zweimal hinschauen, um glauben zu können, was sie sah. Ihr neuer Peugeot 407 Kombi, für den sie vor wenigen Tagen die erste Rate bezahlt hatte, war weg.
*
Die Meldung über den in den späten Abendstunden in Pont-à-Mousson gestohlenen Wagen drang erst spät zur Einsatzleitung der Fahndung durch. Während das größte Tohuwabohu am Bahnhof herrschte, hatte Monique Wèber in der Aufregung ihr Handy nicht finden können. Von der Wohnung einer hilfsbereiten Anwohnerin hatte sie versucht, die Polizei zu erreichen. Nachdem die Leitung ständig
Weitere Kostenlose Bücher