Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
nennen konnte – an der Universität Kopenhagen aufgenommen und den Professor kennengelernt hatte. Ich musste an meine Tante denken. Sie hatte mich zwar darum gebeten, dem Professor Grüße auszurichten, aber sie hatte nur wenige Worte über ihn verloren. Bei meinem letzten Besuch in den Westfjorden, bevor ich zum Studium ins Ausland gegangen war, hatte ich sie gefragt, ob sie ihn persönlich kennen würde, aber keine Antwort darauf erhalten. Sie erklärte, über ihn gehört zu haben, dass er ein angesehener Gelehrter und ohne Zweifel eine Kapazität auf seinem Gebiet sei, sodass ich sehr viel von ihm lernen könne. Meine Tante machte nie viele Worte.
Ich stöhnte. Die Sonne erhob sich über dem Horizont. Gut möglich, dass der Professor spürte, dass ich an Island dachte.
»Vermisst du Island?«, fragte er.
»Nein, eigentlich nicht«, sagte ich. »Obwohl ich im Augenblick wegen dieses furchtbaren Schlamassels, in den wir hineingeraten sind, lieber dort wäre.«
»Ich vermisse es manchmal«, sagte der Professor. »Dann sehne ich mich danach, auf diesen unmöglichen Straßen durch das Land zu reisen. Ich vermisse die isländische Kühle und die blauen Berge in der Ferne. Ich vermisse es, wenn der Winter hereinbricht, ein richtiger Winter mit Massen von Schnee und Stürmen, die tagelang anhaltenkönnen. Ich sehne mich danach, Treibeis zu sehen. Ich vermisse auch die langen Tage im Frühsommer, wenn die Sonne nicht untergeht, sondern sich nur etwas senkt und die Sommernacht mit diesem eigenartig kühlen Licht erhellt.«
Der Professor verstummte. Ich hatte immer noch keine Vorstellung, wie er uns über die dänische Grenze bringen wollte, und vermied es, allzu viel darüber nachzudenken. »Hast du es gut bei deiner Tante gehabt?«, fragte er.
»Ja«, antwortete ich.
»Wann hast du deine Mutter zuletzt getroffen?«, fragte er und redete wie gewöhnlich nicht lange um die Sache herum.
Ich zögerte einen Augenblick, denn ich erinnerte mich an unsere letzte Begegnung; ich saß mit ihr in einem Café, und wir hatten einander nicht das Geringste zu sagen. Sie war wie immer geschmackvoll gekleidet und hatte knallroten Lippenstift aufgelegt. Ich fühlte mich irgendwie schüchtern dieser unbekannten Frau gegenüber, die doch meine Mutter war.
»Sie war vor etwa zwei Jahren in Island«, sagte ich nachdenklich. »Ich habe sie in Reykjavík getroffen. Meine Adresse hatte sie von meiner Tante, und eines Tages stand sie vor meiner Zimmertür.«
Es war Dezember, und sie trug einen dicken Pelzmantel und stand vor der Tür zu meinem Zimmer. Ich erschrak. Ich hatte sie jahrelang nicht gesehen.
»Da bist du ja, mein Liebling«, sagte sie, als ich die Treppe hinaufkam. »Kommst du von der Universität?«
»Ja«, sagte ich zögernd.
»Wie kalt das hier auf dem Flur ist. Ich hoffe, in deinem Zimmer ist es nicht so kalt.«
Ich hatte ein Zimmer auf dem Frakkastígur gemietet, obenunter dem Dach, wo es drei Zimmer mit separatem Eingang gab. Eine steile Treppe führte hinauf in den kleinen Flur, und meine Mutter in ihren feinen Sachen war dort hinaufgekraxelt.
»Freust du dich denn nicht, mich zu sehen?«, fragte sie.
»Ich wusste gar nicht, dass du im Lande bist«, sagte ich und merkte, wie ungeschickt ich mich dabei anstellte, der Frage auszuweichen.
»Komm«, sagte sie, »ich möchte mit dir in ein Café gehen.« Ich nickte zustimmend und stellte meine Tasche ins Zimmer. Wir spazierten zuerst zusammen den Laugavegur hoch, und ich fand es seltsam, vor aller Augen an ihrer Seite zu gehen. Ich weiß, dass es dummes Zeug ist, aber es kam mir so vor, als starrten die Leute uns an und tuschelten über die Frau in dem tollen Mantel mit der modischen Tasche über der Schulter, die an der Seite dieses ungelenken, in einen schäbigen Mantel gekleideten Jungen ging, der ihr Sohn war und um den sie sich fast sein ganzes Leben lang nie gekümmert hatte. Dann gingen wir unter den weihnachtlichen Lichterketten, die über die Straße gespannt waren, den Laugavegur wieder hinunter und setzten uns ins Hotel Borg. Meine Mutter bestellte sich einen Likör zum Kaffee. Als sie den getrunken hatte, winkte sie den Kellner herbei und bat um einen Gin Tonic, wenn er so freundlich sein möge.
»Wie hältst du es mit dem Alkohol, mein lieber Valdemar?«, fragte sie.
Unterwegs hatten wir die meiste Zeit darüber gesprochen, weshalb sich meine Tante da in den Westfjorden abschuftete, und meine Mutter sagte, es sei die reinste Tragödie, dass sie nie
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