Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
ihm zu, dass das möglicherweise ein deutsches Küstenwachboot sein könnte. Der Lichtkegel wurde rasch größer, und der Professor wandte sich mir zu.
»Er sagt, wir sollen ins Meer springen. Wir sind nicht weit vom Land.«
»Ist das die Küstenwache?«
»Ja.«
Ich starrte in die Dunkelheit hinaus. »Ich sehe kein Land«, sagte ich.
»Er sagt, wir bräuchten höchstens zehn Minuten zu schwimmen. Los!«
Der Seemann brüllte uns etwas zu. Der Professor und ich sahen uns in die Augen, und dann blickte ich wieder in Richtung des Lichtstrahls, der sich rasch näherte.
»Los jetzt!«, rief der Professor und zog mich mit. Bevor ich mich versah, klatschten wir auf das Wasser. Das Meer war eiskalt, und ich rang nach Atem, als ich wieder auftauchte. Der Professor kam ebenfalls prustend und keuchend an die Oberfläche.
Wir sahen unserem Boot nach und beobachteten, wie das Küstenwachboot etwas langsamer wurde und mit einem Schwenk unserem Boot den Kurs verlegte. Wir hörten, wie dem Seemann etwas zugerufen wurde, der seine Fahrt vermindert hatte.
»Los jetzt«, keuchte der Professor, »bevor wir erfrieren.«
Wir schwammen los und blickten nicht mehr zurück.
Ich weiß nicht, wie lange wir im Meer waren, bevor wir völlig unterkühlt und abgekämpft das dänische Ufer erreichten. Wir versuchten, unsere Sachen so gut wie möglich auszuwringen, und um wieder warm zu werden, marschierten wir sofort los. Als die Sonne aufging, ließen wir uns von ihren Strahlen wärmen. Der Professor hatte uns tatsächlich heil zurück nach Dänemark gebracht.
Am Abend dieses Tages trafen wir mit dem Zug endlich wieder in Kopenhagen ein. Auf der Bahnfahrt erholte ich mich zwar ein wenig und der Professor auch, aber trotzdem waren wir am Ende unserer Kräfte. Es war ein milder und schöner Abend, obwohl die letzte Oktoberwoche angebrochen war. Wir gingen gerade über den Rathausplatz, als der Professor plötzlich abrupt innehielt.
»Was war das?«, fragte er und starrte nach oben.
»Was ist los?«, sagte ich und begriff nichts. Ich war irgendwie immer noch nicht ganz wieder bei mir. Das Einzige, wonach ich mich sehnte, war ein gutes Bett und so lange zu schlafen wie möglich. Im Stillen hoffte ich, dass es dem Professor gelingen würde, uns aus der fatalen Lage, in die er uns hineinmanövriert hatte, herauszulavieren, aber ich hatte den Verdacht, dass das Wunschdenken eines erschöpften Menschen war.
»Warte«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob ich das richtig gelesen habe.«
»Was?«
»Schau mal auf das Leuchtschild von Politiken . Die Nachricht kommt gleich wieder.«
Ich blickte in dieselbe Richtung wie er und sah auf einem großen Leuchtschild der Zeitung Politiken die neuesten Nachrichten durchlaufen. Ich hatte schon manchmal dort auf dem Rathausplatz gestanden, um innerhalb von wenigen Minuten die neuesten Nachrichten aus aller Welt zuerfahren, aber in dem Augenblick war ich eigentlich nicht in der Verfassung, um noch Nachrichten aufnehmen zu können.
»Komm«, sagte ich. »Vergiss es.«
»Warte noch, mein Freund«, sagte der Professor. »Sie erscheint gleich wieder.«
Ich tat wie geheißen und starrte auf die Leuchtschrift auf dem länglichen Schild oben an dem Gebäude, das fast über die ganze Front ging. Die Nachrichten liefen von rechts nach links durch. Eine war aus Paris, und dann kam eine Waschmittelanzeige, aber dann erschien sie wieder, die Nachricht, die den Professor auf dem Rathausplatz so aus der Fassung gebracht hatte.
LITERATURNOBELPREIS AN HALLDÓR LAXNESS .
Einundzwanzig
Es ist nicht ganz einfach, exakt zu schildern, was in den nächsten Tagen geschah. Diese abenteuerlichen Ereignisse jenes längst vergangenen Herbstes, als ich die Bekanntschaft des Professors machte, sind inzwischen in der Betriebsamkeit des Alltags so fern und unwirklich geworden, dass es mir manchmal so vorkommt, als hätte ich das meiste davon nur geträumt. Hat sich das wirklich so zugetragen, oder haben Zeit, Erinnerungen, Träume und Reflexionen darüber, was geschehen ist, den Verlauf der Ereignisse abgeändert, etwas hinzugefügt oder gar verfälscht? Ich weiß, dass ich manches nie vergessen werde, solange ich lebe, es wird mir bis zur letzten Stunde lieb und wert sein, genau so, wie ich es erlebt habe. Das steht unumstößlich fest. Es sind die kleinen Dinge, bei denen ich mir nicht so sicher bin. Die Zeit hat sie in den Schleier des Vergessens gehüllt, oder, was noch schlimmer ist, sie hat möglicherweise das Wahre und
Weitere Kostenlose Bücher