Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
dem Rathausplatz gesprochenhatten. Er stand rauchend an der Gangway und schien auf jemanden zu warten. Seine Blicke gingen in Richtung Strandgade, und er unterhielt sich mit dem Matrosen, der den Zugang zum Schiff bewachte, aber zu dieser Tageszeit nicht sehr beschäftigt wirkte. Menschen passierten, ohne dass er irgendetwas kontrollierte. An die hundert Leute hatten sich inzwischen beim Schiff eingefunden, und das rege Gewimmel war von Rufen und Schreien begleitet. Fracht wurde an Bord gehievt, Schiffshändler folgten ihrer Ware bis in den Laderaum, Passanten plauderten mit Passagieren, und zahlreiche Hafenarbeiter waren mit Säcken und Stückgut beschäftigt. Taschen und Koffer der Passagiere wurden an Bord getragen. Einige Passagiere der ersten Klasse lehnten an der Reling und schauten dem lebhaften Treiben unten auf dem Pier zu.
Beim Verlassen von Veras Wohnung hatte der Professor mir gesagt, dass er sich auf der Gullfoss auskannte, weil er schon einmal mit ihr gereist war. Außerdem hatte er, genau wie viele andere Isländer in Kopenhagen, manchmal am Anlegekai gestanden, wenn sie in den Hafen einlief. Das Schiff war wie ein kleines Stück Island, die Atmosphäre an Bord, die Passagiere, das Essen, die Zeitungen, und man hörte Isländisch. Wer in Kopenhagen lebte oder sich dort für längere Zeit aufhielt, hatte das Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn er für eine kurze Zeit an Bord ging, den fernen Duft von Island spürte und Nachrichten von daheim erhielt.
»Dort!«, sagte der Professor auf einmal. »Da ist der Kerl!« Ich blickte in die Richtung, in die er zeigte, und sah einen schmächtigen alten Mann in schwarzem Mantel, der sich der Gangway näherte und an Bord gehen wollte. Er trug einen kleinen Koffer in der Hand.
»Das ist er!«, sagte der Professor. »Komm, Valdemar, es geht los!«
»Weißt du, wann das Schiff ablegt?«
»Ja, es ist nicht mehr lange bis dahin. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
Bevor ich mich versah, befanden wir uns mitten in dem Gewimmel beim Schiff. Der Professor ging schon die Gangway hoch, und im gleichen Augenblick hörte ich, wie der Matrose aufgeregt rief: »Da ist er!«
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Ich sah, wie der Professor mit dem Stock in der Hand zusammenzuckte, als sei er vom Blitz getroffen worden. Man hatte uns entdeckt. Ich drehte mich zu dem Matrosen um.
»Wir brauchen nur ein paar Minuten«, flüsterte ich bittend.
»Dort!«, rief der Matrose und achtete überhaupt nicht auf mich, sondern deutete in Richtung Strandgade.
Als ich dorthin blickte, sah ich zwei angeregt ins Gespräch vertiefte Männer die Straße entlangkommen. Den einen erkannte ich sofort, es war Halldór Laxness.
Ich wollte dem Professor gerade zu verstehen geben, dass der Matrose gar nicht uns gemeint hatte, aber dann sah ich, dass er bereits auf dem Schiff verschwunden war. Ich blickte wieder in die Richtung, aus der Halldór kam. Die beiden Männer näherten sich dem Schiff.
Die Umstehenden begannen unwillkürlich zu klatschen, als er näher kam. Inzwischen war ich ebenfalls an Bord. Ich bemerkte eine Gruppe Studenten, die sich unten auf dem Pier versammelt hatten und dem Nobelpreisträger zujubelten. Der Kapitän stand am Ende der Gangway und nahm Laxness in Empfang, als er die Schiffsplanken betrat. Ich vergaß alles um mich herum, denn ich stand ganz in der Nähe und sah, wie sie sich die Hände schüttelten. Ich war dem Dichter nie persönlich begegnet. Er war tadellos gekleidet, trug einen Hut und einen langen Mantel und begrüßte den Kapitän mit einer leichten Verneigung.Meine Tante war immer voller Bewunderung gewesen, wenn sie über ihn gesprochen hatte. Sie war fasziniert davon, wie er über die Schwachen und Benachteiligten schrieb und sich in deren Lage hineinversetzen konnte. Ich hatte ebenfalls fast alle seine Werke gelesen und fand sie großartig.
Ich kam erst wieder zu mir, als mich eine kräftige Hand am Ärmel riss und wegzog. Es war der Professor.
Wir wussten nicht, wo Sigmundur logierte, aber der Professor ging davon aus, dass es in der ersten Klasse war. Ein angenehmer Essensgeruch empfing uns dort. Der Professor stiefelte den Gang entlang und klopfte bei sämtlichen Kabinen an. Wenn niemand antwortete, riss er die Tür einfach auf. Die meisten Kabinen waren unverschlossen. In einigen waren bereits Leute, die ihre Sachen auspackten, und dann bat der Professor um Entschuldigung und erklärte, sich in der Kabine geirrt zu haben. Ein Zittern durchlief das
Weitere Kostenlose Bücher