Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Schiff, als die Maschine angeworfen wurde. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es ablegen würde.
Sigmundur fanden wir nirgends.
Im Speisesaal war niemand, und nur zwei Personen saßen im Rauchsalon. Auch in der zweiten und dritten Klasse fanden wir ihn nicht.
»Wo kann der dämliche Kerl bloß sein?«, schimpfte der Professor, als wir zwischen den Liegeplätzen in der dritten Klasse standen. Die Passagiere dort waren meist junge Leute, die gerade nach ihren Pritschen suchten oder ihre Habseligkeiten verstauten, sonnengebräunte Europareisende, ausgelassen und freudestrahlend.
»Glaubst du, dass Joachim von Orlepp an Bord ist?«, fragte ich.
»Warte hier, und verhalte dich unauffällig«, sagte der Professor, ohne auf meine Frage zu antworten. »Ich werde herausfinden, wo Sigmundur untergebracht ist.«
Im nächsten Augenblick war er verschwunden, und ich stand wie bestellt und nicht abgeholt in der dritten Klasse herum. Das Schiff konnte jeden Augenblick ablegen, und ich war als blinder Passagier an Bord. Ich ging wieder an Deck und sah, wie sich die Passagiere an der Reling aufstellten, um sich zu verabschieden und mitzuerleben, wie das Schiff in See stach. Die letzten Gepäckstücke wurden an Bord gebracht. Die Hafenarbeiter, die das Schiff abgefertigt hatten, standen in einiger Entfernung und rauchten. Die Gangway würde jeden Augenblick hochgezogen werden. Die Schiffsmaschinen dröhnten. Ich hielt Ausschau nach dem Professor, sah ihn aber nirgends.
Und dann kam Bewegung in das Schiff, und es glitt langsam vom Kai weg.
Ich schlich mich wieder hinunter in die dritte Klasse. Dort war außer mir zu dem Zeitpunkt niemand. Die jungen Leute waren alle an Deck, um die Ausfahrt mitzuerleben. Von der dritten Klasse gelangte man in den vorderen Laderaum. Ich öffnete die Persenning, die ihn von der dritten Klasse abtrennte, und versteckte mich in der Dunkelheit zwischen Säcken und Kisten.
Nach kurzer Zeit spürte ich, wie das Schiff volle Fahrt lief. Die Gullfoss war auf dem Weg nach Island.
Dreiundzwanzig
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrich, bis ich mich aus meinem Versteck heraustraute. Ich hatte mich bei einer Palette mit Halbzentner-Zuckersäcken ausgestreckt und war wohl etwas eingenickt. Der Professor war nicht zurückgekommen, und der schreckliche Gedanke beschlich mich, dass er möglicherweise Sigmundur gefunden und es noch geschafft hatte, an Land zu kommen, bevor die Gullfoss abgelegt hatte, und mich hier allein zurückgelassen hatte. In der dritten Klasse war es sehr unruhig, nachdem die Gullfoss ausgelaufen war, und es war nicht einfach, den richtigen Moment abzupassen, um den Laderaum zu verlassen und dabei kein Aufsehen zu erregen. Es gelang mir schließlich hinauszukommen, als ein junges Paar, das nach einem stillen Plätzchen suchte, den Laderaum betrat und direkt vor meiner Nase begann, sich abzuknutschen. Ich räusperte mich, als die Umarmungen hitziger wurden. Die beiden waren zu Tode erschrocken, als sie mich zwischen den Zuckersäcken erblickten. Ich lächelte freundlich und drückte mich an ihnen vorbei. Wir gaben einander zu verstehen, dass von dieser Begegnung niemand erfahren würde. Sie fuhren fort, sich zu küssen, während ich durch die dritte Klasse schlenderte und an Deck ging.
Ich musste den Professor finden. Ich hatte keine Ahnung, was aus ihm geworden war und weshalb er mich einfach allein ließ. Hatte er Sigmundur gefunden? Konnte es tatsächlichsein, dass er gar nicht mehr an Bord war? Oder waren dem Professor von Orlepp und seine Leute über den Weg gelaufen, mit schlimmen Folgen?
Ich versuchte, mich weiterhin so unauffällig wie möglich zu verhalten, und ging zu den Kabinen der zweiten Klasse, um nach dem Professor zu suchen. Ich traute mich ehrlich gesagt nicht recht in die erste Klasse, denn soweit ich wusste, achtete man sehr darauf, dass sich da keine ungeladenen Passagiere aus der zweiten und dritten Klasse herumtrieben. Der Besatzung in die Hände zu fallen wäre das Letzte, was ich mir gewünscht hätte, ich, der unbedeutendste von allen Passagieren – und ein blinder dazu. Wie alle hatte ich Geschichten von der ersten Klasse auf der Gullfoss gehört, über das Mittagsbüfett und das Dinner am Abend, wenn die Passagiere der ersten Klasse sich in Schale warfen und der Kapitän illustre Gäste an seinen Tisch bat; ich hatte von dem Rauchsalon gehört, in dem ein Klavier stand und wo manchmal auch getanzt wurde, die Damen in langen Kleidern und die Herren im
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