Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
verschaffen.
Konnte es sein, dass sie den Professor in ihrer Kabine hatten?
War der dritte Teller für ihn?
Ich wusste nicht, wie ich die Situation einschätzen sollte. Je mehr Zeit verstrich, desto mehr Sorgen machte ich mir um den Professor. Ich hatte Angst und fühlte mich einsam. Als er den Gepäckaufbewahrungsraum verließ, hatte er nur gesagt, dass er Sigmundur zur Vernunft bringen wolle, aber ich wusste nicht genau, was er damit gemeint hatte. Ich hatte nicht gesehen, dass Helmut mit Joachim von Orlepp an Bord gekommen war. Konnte er schon in Kopenhagen eingestiegen sein und den Professor gesehen haben? Hatte er ihn womöglich über Bord gehen lassen? Außer mir würde ihn niemand vermissen, und ich konnte mit niemandem über meine Befürchtungen sprechen.
Sollte ich zum Kapitän gehen und ihm sagen, wie das alles zusammenhing? War jetzt der richtige Moment gekommen? Oder sollte ich dem Professor mehr Zeit lassen?
War es möglich, dass sie ihn in ihrer Kabine hatten?
Wer sonst konnte der dritte Mann in dieser Kabine sein?Sigmundur konnte ich nirgendwo unter den Passagieren entdecken. Ich ging zu seiner Kabine, klopfte an, aber niemand antwortete. Ich versuchte, die Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Ich flüsterte den Namen des Professors, doch es kam keine Reaktion.
In meiner Verzweiflung suchte ich das ganze Schiff ab und ging hoch zum Oberdeck in der Hoffnung, entweder auf Sigmundur oder auf den Professor zu stoßen. Die Klaviermusik wurde immer deutlicher, je mehr ich mich dem Rauchsalon näherte, und die lebhaften Gespräche der Passagiere drangen zu mir heraus.
Ich stolperte über einen Haufen Taue, der an der Reling lag. Bei näherem Hinsehen erwiesen sie sich als eine Strickleiter, und mir kam eine erstaunlich verwegene Idee. Ich nahm die Strickleiter mit und band sie oberhalb der Kabine fest, in der wahrscheinlich von Orlepp und Helmut untergebracht waren. Noch bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht hatte, warf ich die Leiter über die Reling und kletterte vorsichtig an der Außenwand des Schiffes nach unten. Glücklicherweise war kein Seegang, das Wetter war mild, und das Schiff durchpflügte ruhig die Wellen, ohne zu schlingern. Ich weiß nicht, was sonst passiert wäre, denn mir wurde schon immer schnell schwindlig. Das Meer war tief unter mir, aber ich bemühte mich, nicht daran zu denken, und vermied es, nach unten in die Wellen zu sehen. Ich stieg bis zu der Kabine hinunter, wo ich von Orlepp vermutete. Zu meiner herben Enttäuschung waren die Vorhänge vor dem Fenster zugezogen, sodass ich nichts sehen konnte. Es war nicht einfach für einen ungeübten Menschen wie mich, da in einer straffen Strickleiter an der Schiffswand zu hängen. Mir taten die Arme weh, und ich bekam einen Krampf im Bein. Ich verlagerte mein Gewicht auf das andere Bein und überlegte, was zu tun sei, als ich bemerkte, wie der Vorhang aufgezogen wurde, dasFenster sich öffnete und jemand einen Aschenbecher ins Meer leerte.
Ich wartete eine Weile ab, bevor ich mich näher heranschob und ganz vorsichtig den Kopf vorstreckte, um in die Kabine hineinzuspähen. Als Erstes sah ich ein Bett, auf dem ein großer Koffer lag. Daneben saß ein Mann, und ich glaubte zu erkennen, dass es Helmut war. Als ich mich noch etwas weiter vorbeugte, sah ich Joachim von Orlepp bei der Kabinentür, er stand seitlich zu mir und unterhielt sich anscheinend mit einer dritten Person, die ich nicht sehen konnte. Ich konnte nicht hören, was gesagt wurde, hatte aber den Eindruck, dass das Gespräch in großer Eintracht verlief. Neben Joachim von Orlepp war ein Spiegel, über den ich einen weiteren Teil der Kabine einsehen konnte.
Es verschlug mir den Atem, als ich auf dem Tisch, an dem der Dritte saß, die verschollenen Seiten aus dem Codex Regius erblickte.
Sie hatten sie mit an Bord genommen!
Ich war mir sicher, dass es sich um die Pergamentseiten handelte. Und sie lagen da drinnen bei ihnen einfach so auf dem Tisch herum. Ich erkannte sie sofort, obwohl ich sie in Schwerin nur ein einziges Mal bei schlechtem Licht gesehen hatte.
Ich starrte angestrengt in den Spiegel, um die Pergamentseiten besser in den Blick zu bekommen, als sich eine Hand auf sie legte. Ich sah nicht, wer da saß, ich sah nur eine alte, runzlige, knochige Hand mit langen Fingernägeln. Damit wusste ich immerhin, dass der dritte Mann in der Kabine nicht der Professor war. Als der Mann sich langsam vorbeugte, erschien sein Profil im Spiegel. Es war ein sehr
Weitere Kostenlose Bücher