Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
ihm, sie zu lesen.
Ich ließ meine Blicke langsam durch den Raum schweifen. Urplötzlich gefror mir das Blut in den Adern, als ich sah, dass sich außer mir noch jemand unter falscher Flagge in den Salon geschmuggelt hatte. Ich hatte ihn zunächst gar nicht bemerkt, aber als meine Blicke auf ihn fielen, hätte ich vor Schreck fast laut aufgeschrien. Er schien mich nicht gesehen zu haben. Ich versuchte, nicht in sein Blickfeld zu geraten, und beobachtete ihn aus der Ecke heraus, in der ich stand. Wo war bloß der Professor jetzt, wo er am meisten gebraucht wurde? Der Mann trug einen Hut und einen langen Mantel, und auf den ersten Blick unterschied er sich nicht von den anderen im Raum. Er war wahrscheinlich mit den englischen Presseleuten an Bord gekommen, und ich hatte ihn in der Menge nicht bemerkt. Er tat so, als notiere er sich das, was Laxness sagte, aber ich sah, dass er etwas unruhiger wirkte als die Reporter; er schien nach einer Möglichkeit zu suchen, den Salon zu verlassen, bevor die Pressekonferenz zu Ende war.
Dann beobachtete ich, wie er sich aus dem Rauchsalon schlich und zum Speisesaal hinunterging. Dort war gerade das legendäre Mittagbüfett aufgebaut worden, und mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich den langen Tisch sah, der sich unter kaltem Schinken, geräuchertem Lamm- und Schweinefleisch, geräuchertem und mariniertem Lachs und vielen anderen Gaumenfreuden bog. Die Passagiere aus der ersten Klasse fanden sich einer nach dem anderen ein, einige standen bereits am Büfett. Kellner und Köche eilten geschäftig hin und her. Der Mann, dem ich folgte, achtete auf nichts um sich herum, sondern durchquerte rasch den verlockend duftenden Speisesaal und begab sich zu demselben Gang, in dem auch die Kabine von Sigmundur lag. Der Mann klopfte an eine Tür am Ende desGangs, und ich hörte ihn etwas sagen. Die Tür öffnete sich, und er verschwand in der Kabine.
Das Herz hämmerte in meiner Brust.
Am liebsten hätte ich um Hilfe gerufen, nach dem Professor gerufen, nach irgendjemandem gerufen, aber ich tat nichts dergleichen. Ich wusste weder aus noch ein.
Den Mann, dem ich quer durch den Speisesaal gefolgt war, hatte ich zuletzt gesehen, als der Professor und ich in Schwerin festgenommen worden waren. Er war der Mann, der dem Professor die verschollenen Seiten des Codex Regius aus der Hand gerissen hatte.
Joachim von Orlepp.
Vierundzwanzig
Die Gullfoss dampfte bereits wieder aus dem Hafen von Leith heraus, und ich hatte den Professor immer noch nicht gefunden. Die Presseleute hatten das Schiff nach beendeter Pressekonferenz verlassen, und die Passagiere, die sich Edinburgh angesehen hatten, waren alle wieder an Bord. Vor uns lag die mehrtägige Überfahrt nach Island, vor der ich mich mehr fürchtete, als Worte beschreiben können.
Ich wusste nicht, wie ich den Professor wiederfinden sollte, und gelangte so langsam zu der Überzeugung, dass ihm etwas zugestoßen war. Ich behielt von Orlepps Kabine im Auge, sauste aber zwischendurch immer mal wieder zum Gepäckaufbewahrungsraum, falls der Professor dort nach mir suchen sollte. Ich hielt mich die meiste Zeit an Deck auf, weil ich davon ausging, dass die Besatzung mich für einen von den Passagieren halten würde, und das klappte.
Gegen Abend öffnete sich von Orlepps Kabinentür, und ich sah den Mann herauskommen, der auf dem Friedhof in Schwerin bei ihm gewesen war. Helmut hieß er, wie ich mich zu erinnern glaubte. Er ging zum Speisesaal und kehrte nach einiger Zeit mit einem Tablett zurück, auf dem drei Teller standen. Also schienen drei Männer in dieser Kabine zu sein, und ich überlegte, wer der dritte sein könnte.
Auf dem Schiff war die Beleuchtung angegangen. Die Passagiere der ersten Klasse hatten sich in Schale geworfenund kamen aus ihren Kabinen, um sich in den Rauchsalon zu begeben und vor dem Essen noch einen Drink zu sich zu nehmen. Im abendlichen Zwielicht drangen Klänge des Klaviers nach draußen, und der Duft des Essens vermischte sich mit der salzigen Meeresluft. Ich beneidete diese Menschen um ihren Luxus. Sie schienen ein völlig sorgloses Leben zu führen und jede Stunde an Bord in vollen Zügen zu genießen. Nachmittags legte man sich etwas hin, um sich anschließend elegant zu kleiden und an einem opulenten Dinner teilzunehmen. Nach dem Essen konnte man nach Belieben bei einem Glas Wein oder bei einem Kartenspiel entspannen.
Ich versuchte die ganze Zeit verzweifelt, mir Klarheit über die Situation zu
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