Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
aber das sagt vielleicht mehr über die Wissenschaft aus, mit der er sich befasste, als über den Mann selbst. Nun aber hatte es den Anschein, als hielte er es nicht länger aus und müsse sich das Gewissen erleichtern, indem er mich zu seinem Vertrauten machte. Seinetwegen war ich in einem fremden Land im Gefängnis gelandet, und er schuldete mir eine Erklärung.
Es begann damit, dass ich ihn nach etwas fragte, was Joachim von Orlepp auf dem Friedhof gesagt hatte, einen unvollständigen Satz, bei dem ich bemerkt hatte, dass der Professor ihm ins Wort gefallen war. In dieser Zelle erinnerte ich mich auf einmal an den Satz, es ging um die Seiten aus dem Codex Regius und darum, dass ausgerechnet der Professor sie nicht aushändigen wollte, der schon etwas anderes und viel Bedeutenderes aus der Hand gegeben hatte, wenn ich diesen Joachim richtig verstanden hatte. Ich überlegte eine ganze Weile und fragte schließlich den Professor danach.
»Auf was hat dieser Joachim angespielt, als du meintest, dass du die Seiten nicht aus der Hand geben würdest?«
»Worum ging es da, mein Freund?«, fragte der Professor. »Joachim von Orlepp sagte, dass es dir nicht schwerfallenwürde, ihm die Pergamentseiten zu geben, weil du bereits etwas anderes und nicht weniger Kostbares aus der Hand gegeben hättest. Was war das? Worauf hat er angespielt?«
Der Professor ließ auf seine Antwort warten. Er ging vermutlich mit sich zurate, ob er mir etwas anvertrauen wollte, das er jahrelang für sich behalten hatte. Ich insistierte nicht, und in dieser entsetzlichen Zelle entstand zunächst ein verlegenes Schweigen, das aber in der Finsternis verebbte und schließlich in der Grabesstille der vier Wände verhallte.
Doch dann antwortete er.
Der Professor räusperte sich.
»Ich habe schon früher einmal in einer solchen Zelle gesessen«, sagte er.
»Früher einmal?«
»Ja.«
»In so einer Zelle?«
»Ja, in genau so einer Zelle«, sagte er. »Im Finstern, genau wie jetzt.«
Wir schwiegen beide eine ganze Weile. Ich traute mich nicht, direkt nachzufragen, aber mir fiel wieder ein, dass er im Zweiten Weltkrieg den Nazis in die Hände gefallen war. Der Professor begann mit seiner Erzählung, und seine Stimme war von unsäglicher Trauer erfüllt. Zuerst hatte ich keine Ahnung, worauf es hinauslief. Er erzählte von seiner Jugend im Ófeigsfjörður im Nordwesten Islands, von seiner tiefgläubigen Mutter und von sich selbst und seiner Leidenschaft für Bücher, die er von Kindesbeinen an gehabt hatte. Auf dem Land waren Bücher meist selten und kostbar, doch dort, wo er kurz vor der Jahrhundertwende aufwuchs, befand sich die größte Bibliothek des ganzen Bezirks. Abends wurde dort aus Büchern vorgelesen, und manchmal durfte er sogar selbst vorlesen.
Da er ein hervorragender Schüler war, wurde er nach Reykjavík auf die Höhere Schule geschickt, wo er das beste Abitur seines Jahrgangs machte. Anschließend reiste er zum Studium nach Kopenhagen. Seitdem hatte er dort gelebt.
»Du hast vermutlich etwas über meine Gitte und ihr tragisches Schicksal gehört«, sagte er. »Es war eine furchtbare Zeit. Doch es sollte noch etwas geschehen, was mir schwerer auf der Seele lastet, als sich in Worten ausdrücken lässt, und mein Lebensglück vollends zerstört hat; viel war ja davon nicht übrig geblieben.«
Er machte eine kleine Pause. Ich hielt mich zurück und sagte nichts.
»Du hast sicher auch davon gehört, dass ich gegen Ende des Krieges der Gestapo in die Hände fiel«, sagte er. »Ich wurde verhaftet.«
»Davon habe ich gehört.«
»Sie glaubten, dass ich mit der dänischen Untergrundbewegung zusammenarbeitete.«
»Hast du das getan?«
»Selbstverständlich. Natürlich war man gegen die Nazis. Für mich kam gar nichts anderes in Frage. Ich bereue es auch nicht, obwohl es ein gigantisches Opfer gekostet hat.«
»Opfer?«
»Ja. Uns alle, die ganze isländische Nation. Und alles war meine Schuld.«
Er verstummte. Ich traute mich nicht, einen Ton von mir zu geben. Seine Stimme verriet mir, dass etwas schwer auf ihm lastete.
»Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll, Valdemar«, sagte der Professor schließlich und seufzte tief. »Weiß wirklich nicht, wo ich beginnen soll.«
Er war in seinem Arbeitszimmer, als sie ihn am helllichten Tag abholten. Zwei Nationalsozialisten von der Geheimen Staatspolizei und drei dänische Kollaborateure drangen in sein Büro ein, nahmen ihn fest und führten ihn ins Shell-Gebäude an der
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