Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
geschweige denn irgendwelche Kulturschätze.«
»Und deswegen glaubst du diesem Joachim nicht, wenn er sagt, dass Erich von Orlepp tot ist?«
»Das glaube ich erst, wenn ich auf seine sterblichen Überreste gespuckt habe, vorher nicht. Ich weiß nicht, was Vater und Sohn da für ein Spiel spielen, aber ich habe mir angewöhnt, keinem Wort von dem, was sie sagen, Glauben zu schenken.«
»War es nicht unangenehm für dich, mit diesem Joachim zu reden? Er ist der Sohn deines Peinigers.«
»Am liebsten hätte ich ihm die kalte Schulter gezeigt. Aber ich wollte nicht, dass er mit irgendjemand anderem redet. Und das hat er nicht getan.«
»Angenommen, er hat dich tatsächlich im Auftrag seines Vaters nach dem Codex Regius gefragt, bestätigt das denn nicht die Möglichkeit, dass er wirklich nicht weiß, wo sich die Handschrift befindet?«
»Weiß der Teufel«, sagte der Professor. »Du hast gesehen, wie er uns die verschollenen Seiten aus der Hand gerissen hat. Er hat mich mit seinem Gefasel, dass er nicht wisse, wo der Codex ist, in die Irre geführt. Er hat mich verfolgt. Er ist wahrscheinlich die ganze Zeit nur hinter den verschollenen Seiten der Lücke her gewesen. Ich glaube, sein Alter hat ihn von Südamerika herübergeschickt, um mich zu bluffen, damit ich mich wieder auf die Suche mache und er mir auf den Fersen bleiben kann. Er tat so, als hätte er selbst etwas über die Seiten der Lücke herausgefunden, als stünde er kurz davor, sie zu finden. Ich verlor die Nerven.«
Der Professor verstummte.
»Du hast mich neulich danach gefragt, ob ich etwas überRussen wüsste, die aus der Sowjetunion geflüchtet sind«, sagte ich.
»Ja?«
»Was genau hast du damit gemeint?«
»Das ist auch eine von diesen Sackgassen«, antwortete der Professor. »Ich versuche seit Jahren, diesen Russen ausfindig zu machen, der von Orlepp verhaftete, als der Krieg zu Ende war. Das ist mir nicht gelungen. Ich habe Freunde in Moskau, die mir geholfen haben, und deswegen weiß ich, dass er in den Westen geflohen ist. Aber diese Spur habe ich seit langem verloren.«
»Inwiefern könnte er dir helfen?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Aber du machst dir trotzdem irgendwie Hoffnungen.«
»Es ist so erbärmlich wenig, was ich über von Orlepp weiß, nachdem er Kopenhagen mit dem Codex Regius verlassen hat. Ich weiß nur, dass er nach dem Krieg gefangen genommen wurde, und ich weiß nicht, was aus ihm wurde, nachdem sie ihn freigelassen hatten.«
Die Stimme des Professors klang müde.
»Ehrlich gesagt habe ich alle Hoffnung aufgegeben, den Codex Regius je wieder in den Händen zu halten«, stöhnte er.
Trotz des kläglichen Endes der Reise nach Schwerin stellte sich in den nächsten Tagen heraus, dass der Professor keineswegs die Flinte ins Korn geworfen hatte. Ganz im Gegenteil, es hatte eher den Anschein, als habe ihm das Fiasko dort neuen Auftrieb gegeben. Er erschien mit verdoppeltem Elan zu seinen Vorlesungen und Seminaren und kniete sich in den folgenden Wochen in die Arbeit. Wir unterhielten uns manchmal nach den Seminarstunden, und er war stets nüchtern und gut rasiert, und ich glaubte sogar zu sehen, dass der weiße Strubbelkopf miteinem Kamm in Berührung gekommen war. Ich konnte nicht anders, als seine Zähigkeit zu bewundern, versuchte mir aber gleichzeitig einzuschärfen, dass ich auf keinen Fall wieder mit ihm auf Reisen gehen, sondern mich voll und ganz auf mein Studium konzentrieren würde. Aber ich war hin- und hergerissen. Ich kann nicht leugnen, dass der Fund der verschollenen Seiten aus der Lücke und die Abenteuer in Schwerin mein Interesse an dem geweckt hatten, womit sich der Professor befasste. Das war alles so spannend und weit entfernt von akademischer Gelehrsamkeit. Nie im Leben war ich mit Derartigem in Berührung gekommen. Ich hatte mit eigenen Augen die verschollenen Seiten aus dem Codex Regius erblickt! Diesen Augenblick würde ich nie in meinem Leben vergessen können, und wenn ich irgendetwas dazu beitragen könnte, sie wiederzubeschaffen, musste ich einfach dazu bereit sein. Ich gebe gerne zu, dass mir nicht ganz wohl bei dem Gedanken war, in die Händel zwischen dem Professor und den Wagneriten hineingezogen zu werden. Wahrscheinlich hätte ich am liebsten mein Studium fortgesetzt, als sei nichts vorgefallen. Aber das war mir nicht vergönnt.
»Würdest du bitte einen Augenblick warten, Valdemar«, sagte der Professor am Ende eines Seminars am Freitagnachmittag. Das Wochenende stand bevor, und ich
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