Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
wollte es nutzen, um einige anliegende Referate fertigzustellen. Ich sah ihn misstrauisch an. Da war etwas in seiner Stimme, irgendein Unterton, der mich an den bewussten Abend erinnerte, als er mich dazu brachte, mit ihm in die DDR zu fahren.
»Kannst du dich an das erinnern, worüber wir auf der Heimreise von Schwerin gesprochen haben?«, fragte der Professor. »Ich hab noch einmal meine Fühler ausgestreckt, weil du mich nach den Russen gefragt hast, die Erich von Orlepp gefangen nahmen.«
»Ja?«, sagte ich vorsichtig.
»Als ich nach unserer Rückkehr abends nach Hause kam, ging mir das nicht mehr aus dem Kopf«, sagte er. »Ich suchte in meinen Unterlagen die Namen des russischen Regiments und des Befehlshabers heraus, die ich seinerzeit bei meinem Deutschlandbesuch nach Ende des Kriegs ausfindig gemacht habe. Ich habe mir auch die Korrespondenz mit meinen Bekannten in Moskau angeschaut. Ich hatte sie gebeten herauszufinden, was aus ihm geworden war.«
»Ja, genau«, sagte ich.
»Jahrelang habe ich mich bemüht, ihm auf die Spur zu kommen, aber ohne Erfolg. Ich hatte lange nichts von meinen Moskauer Freunden gehört, doch nach unserem Gespräch auf der Fähre nahm ich mir vor, mich noch einmal mit ihnen in Verbindung zu setzen.«
»Und?«
»Gestern Abend erhielt ich einen Hinweis, dem ich nachgehen muss.«
»Einen Hinweis?«
»Hatte ich dir nicht gesagt, was meine Moskauer Freunde herausgefunden haben?«, sagte der Professor.
»Nein«, sagte ich.
»Also denn. Sie haben seinerzeit Nachforschungen für mich angestellt. Der Kommandant der Unterabteilung, die von Orlepp in Haft nahm, ist 1949 aus der Sowjetunion geflohen. Er war immer noch beim Militär und damals in Ostberlin stationiert. Eines Tages hat er sich nach Westberlin abgesetzt, wo er eine Zeit lang lebte, aber danach trieb er sich an vielen Orten herum, unter anderem ging er nach Amerika. Er lebt noch und ist jetzt wieder in Europa, wie ich gestern Abend erfuhr. Er steht in Verbindung mit seiner Familie in der Sowjetunion. Seine Mutter dort vermisst ihn sehr.«
»Ja und?«, sagte ich gespannt.
Der Professor sagte nichts, sah mich aber erwartungsvoll an.
»Was ist?«
»Hast du nie den Wunsch gehabt, einmal nach Holland zu fahren?«, fragte er.
»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, erklärte ich.
»Dieser Russe lebt in Holland«, sagte er. Allem Anschein nach hatte er sich nach dem Schwerin-Abenteuer wieder völlig erholt. Ich nahm an, dass es mit diesen neuen Informationen über den Russen zu tun hatte. Ich hätte ihm gerne zu verstehen gegeben, dass die Wahrscheinlichkeit, etwas aus diesem Russen herauszubekommen, außerordentlich gering war, selbst wenn es ihm gelingen sollte, seiner habhaft zu werden. Wie sollte sich dieser Mann angesichts all dessen, was am Ende des Kriegs passiert war, an eine bestimmte Festnahme erinnern können? Was konnte er schon über die bibliophilen Interessen eines Erich von Orlepp wissen?
»Was glaubst du denn, was du jetzt, zehn Jahre später, aus ihm herausholen kannst?«, fragte ich stattdessen vorsichtig.
»Ich sage dir das, weil du es warst, der meine Gedanken wieder auf diesen Mann gebracht hat. Vielleicht finde ich ihn, vielleicht nicht. Den Versuch ist es aber meiner Meinung nach wert. Von Orlepp ist bald nach Kriegsende aus Berlin verschwunden. Da könnte die Antwort auf die Frage liegen, nach der ich suche. Ich fahre nach Holland. Kommst du mit?«
Es klang wie ein Appell an mich.
»Du verlierst nichts dabei, es geht nur um ein Wochenende«, sagte er. »Am Montag sind wir wieder zurück. Es wird nicht zu deinem Schaden sein.«
Nicht zu deinem Schaden, überlegte ich. Du verlierst nichts dabei.
»Ich glaube, das geht nicht«, sagte ich zögernd. »Das Studium und alles …«
»Mach dir doch nicht schon wieder Sorgen wegen des Studiums«, sagte der Professor. »Das Studium bin ich! Du hast mich dabei.«
»Ich habe mich eigentlich noch nicht so richtig von dem erholt, was in Schwerin passiert ist«, sagte ich vorsichtig. Der Professor sah mich lange an. Ich hatte das Gefühl, ihn im Stich zu lassen, und ich fühlte mich unwohl. Trotzdem wollte ich nicht nachgeben. Wir hatten zusammen die unglaublichsten Dinge erlebt, und ich hatte großes Mitgefühl mit ihm, aber ich war eben einfach kein Held. Diese Abenteuer des Professors waren nichts für mich, doch irgendwie konnte ich mich nicht dazu durchringen, ihm das rundheraus zu sagen. Er hatte mich in zweifelhafte und gefährliche Aktionen
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