Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
hineingezogen, obwohl mich seine Probleme eigentlich nichts angingen. Ich hatte keinerlei persönliche Interessen zu wahren. Weshalb musste er mir jetzt wieder damit kommen? Ich war absolut nicht auf so etwas eingestellt gewesen, als ich nach Kopenhagen kam, und nach der Reise nach Schwerin war ich der Meinung, dass mein Anteil daran damit beendet war. Ich hatte nur den einen Wunsch, in Ruhe meinen nordistischen Studien nachzugehen. Nach nichts anderem stand mir der Sinn. So dachte ich. Ich traute mich aber nicht, dem Professor in die Augen zu sehen, sondern ich tat so, als würde ich etwas auf der Tafel hinter ihm lesen.
Ich sah die verschollenen Seiten der Lücke vor mir, die lodernde Petroleumlampe und das Grinsen von Joachim. »Na schön«, sagte der Professor schließlich. »Ich verstehe dich. Ich kann dich nicht immer wieder da hineinziehen. Hoffentlich bist du imstande, Schweigen über das zu bewahren, was ich dir anvertraut habe. Nur wir beide wissenetwas über den Codex Regius , und es ist außerordentlich wichtig, dass es weiterhin so bleibt.«
Er nahm seine Aktentasche und verließ den Seminarraum. Ich blickte ihm nach und schämte mich so sehr, dass ich knallrot anlief. Er war schon beinahe zur Tür hinaus, als ich mich nicht länger zurückhalten konnte.
»Wo lebt dieser Russe?«, rief ich ihm nach, während sich mein Magen zusammenkrampfte.
Der Professor drehte sich um.
»In Amsterdam«, sagte er. »Mitten im Rotlichtviertel.«
Fünfzehn
Der Professor hatte keineswegs übertrieben, als er sagte, dass der Russe mitten im Rotlichtviertel von Amsterdam wohnen würde. Unsere Pension lag am Nieuwendijk in der Nähe des Dam-Platzes, wo das berühmte Hotel Krasnapolsky stand. Von da aus gingen wir über die Oude Hoogstraat und bogen in den Oudezijds Achterburgwal ein. Vor uns lagen die Straßen mit den roten Laternen und den Abgründen menschlichen Lebens und Treibens, wo man auch hinblickte. Käufliche Frauen saßen hinter großen Schaufensterscheiben, einige rauchten und machten den Eindruck, als wären sie dort ganz einfach zu Hause. Andere versuchten, durch Netzstrümpfe, hochhackige Schuhe und Reizwäsche, die nur wenig verhüllte, auf sich aufmerksam zu machen. Einige stellten sogar ihren Busen zur Schau, und ich bemühte mich, nicht hinzuschauen. Einige waren hübsch und lächelten mich so aufreizend an, dass es mir schon peinlich war. Statt Begierde zu verspüren, fühlte ich mich nur unangenehm und seltsam traurig berührt, als ich diese Frauen sah. Sie erinnerten mich an gaffende Fische in einem Aquarium, und sie kamen mir unter diesen Umständen nicht sehr verführerisch vor, sondern eher bemitleidenswert. Ich hatte das Gefühl, sie zu erniedrigen, wenn ich sie so anstarrte wie ein potentieller Freier.
Der Professor schenkte den Prostituierten keinerlei Beachtung, sondern marschierte an den Schaufenstern vorbei, als seien sie gar nicht vorhanden. Eine betrunkene Frauum die fünfzig mit verschmiertem Lippenstift fasste nach meiner Hand und sagte etwas auf Holländisch, aber ich entzog sie ihr rasch und schüttelte den Kopf, ohne stehen zu bleiben. Wir bogen in die Moonikenstraat ein, eine Querstraße, in der es noch verlotterter aussah. Dort reihte sich ein Schaufenster an das andere. Ein relativ gut gekleideter Mann lag regungslos auf dem Pflaster bei einer Hauswand, es war unklar, ob sein Vollrausch auf Alkohol oder auf Drogen zurückzuführen war. Der Professor hielt einen Zettel in der Hand, suchte nach der richtigen Hausnummer und fand sie an einem baufälligen vierstöckigen Gebäude. Im Erdgeschoss war eine schmierig und düster wirkende Kneipe, und daneben war unter einem Schild mit der Aufschrift »Zimmer zu vermieten« der Eingang zu den oberen Etagen. Ein älterer Asiate saß hinter einer Theke. Der Professor unterhielt sich kurz mit ihm und sagte den Namen des Russen, Boris Gruschenkow.
»Nummer drei«, antwortete der Mann auf Englisch und deutete nach oben. »Schläft«, fügte er hinzu. Er grinste so breit, dass unten und oben die zahnlosen Kiefer fast gänzlich zum Vorschein kamen.
»Vielen Dank«, sagte der Professor.
»Nehmt euch vor ihm in Acht«, sagte der Asiate. »Er ist schon seit Wochen betrunken.«
Wir warfen uns einen Blick zu, und dann folgte ich dem Professor die Treppe hoch zu dem Zimmer des Russen. Das Stimmengewirr aus der Kneipe unten drang in den Korridor hoch, wechselweise weibliches Kreischen und dunkle betrunkene Männerstimmen, und im Hintergrund hörte
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