Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
vergangen, ohne dass der Professor aufgetaucht wäre. Ich kam zu dem Schluss, dass er unsere Verabredung vergessen haben musste, und war halbwegs sauer darüber. Aber nur halbwegs. Wegen des Rufs, in dem der Professor stand, hatte ich nämlich auch etwas Bammel vor dieser Begegnung gehabt. Studenten, die nach Beendigung ihres Studiums nach Island zurückgekehrt waren, hatten Geschichten von ihm erzählt, die keineswegs dazu angetan waren, ihm einen Heiligenschein zu verleihen. Trotzdem hatten sie alle uneingeschränkten Respekt vor dem Professor, das stand außer Zweifel. Soweit ich wusste, verwies er Studenten, die einen schläfrigen oder unkonzentrierten Eindruck machten, einfach aus seinen Seminaren. Es war sehr ratsam, gut vorbereitet zum Unterricht zu erscheinen, denn falls er die geringste Nachlässigkeit bei den Studenten gewahr wurde, konnte es passieren, dass er sich weigerte, sie weiter zu unterrichten. In den Prüfungen ließ er die Leute gnadenlos durchfallen, wenn es ihnen an Auffassungsgabe und Arbeitseifer mangelte, und bei mündlichen Prüfungen legte er es geradezu darauf an, schlecht vorbereitete Studenten aus der Fassung zu bringen und sie zu verunsichern, wie seine ehemaligen Studenten erzählten.
Auf diese Weise siebte er diejenigen aus, die ihm nicht in den Kram passten oder seiner Meinung nach nichts in dieserWissenschaft verloren hatten. Wenn er aber wirklichen Forscherdrang und Talent zu erkennen glaubte, war er sehr darum bemüht, solche Studenten zu fördern. Sein Gedanke dabei war der, dass nur die Besten das Vorrecht genießen durften, unsere kostbarsten Schätze in den Händen zu halten, die Pergamenthandschriften.
Das alles ging mir durch den Kopf, während ich da auf dem Korridor stand und die Zeit verstrich. Es war jetzt halb zehn. Ich hatte noch einige Male ergebnislos angeklopft und mich mehrmals vergewissert, dass dies der richtige Tag und die richtige Uhrzeit war. Schließlich riskierte ich es, die Klinke herunterzudrücken, aber das Büro war verschlossen.
Ich gab auf, aber just in dem Augenblick, als ich mich umdrehte und den Korridor zurückgehen wollte, kam es mir so vor, als hörte ich ein leises Stöhnen aus dem Büro. Das konnte aber auch eine Täuschung gewesen sein. Ich legte das Ohr an die Tür und lauschte eine Weile, doch nichts geschah.
Ich war also gezwungen, unverrichteter Dinge abzuziehen. Auf dem Korridor kam mir ein Mann entgegen, der offenbar zu seinem Büro wollte, und ich fragte ihn nach dem Professor. Mein Schuldänisch war passabel, doch während der ersten Zeit hatte ich einige Probleme, schnell sprechende Dänen zu verstehen. Der Mann schüttelte den Kopf und erklärte, der Professor sei völlig unberechenbar. Er erkundigte sich, ob ich mit ihm verabredet gewesen sei, und grinste, als ich das bejahte. Er meinte, dass er wahrscheinlich noch gar nicht in seinem Büro erschienen sei. Es hörte sich so an, als sei das nichts Ungewöhnliches.
Ich verbrachte den Morgen damit, mir das Universitätsgelände anzusehen, schlenderte durch die Krystalgade und Fiolstræde mit dem Runden Turm und stand ehrfürchtig vor den Kirchen in der Altstadt: der Trinitatiskirke, derSkt. Petri Kirke, Helligåndskirke und nicht zuletzt vor der Vor Frues Kirke mit den Aposteln des Bildhauers Bertel Thorvaldsen zu beiden Seiten. Dr. Sigursveinn hatte mir ans Herz gelegt, die Vor Frues Kirke gleich nach meiner Ankunft zu besuchen, und mir einen langen Vortrag über die interessante Tatsache gehalten, dass Judas sich nicht in der Schar der Jünger befand, sondern durch den Apostel Paulus ersetzt worden war. Ich verspürte Lust auf einen Kaffee, ging vorbei am Hauptgebäude der Universität beim Frue Plads zurück und suchte mir einen freien Tisch im Lille Apoteket in der St. Kannikestræde. Von dort aus ging ich zu dem berühmten Wohnheim Studiegården und ruhte mich auf der Bank unter der Linde aus. Auf dem Weg zu meiner Unterkunft in der Skt. Pedersstræde kam ich am Haus Nr. 22 vorbei. Zwischen den Fenstern im ersten Stock war eine Tafel angebracht, die an Jónas Hallgrímsson erinnerte. Ich starrte zum obersten Stockwerk hoch, wo Jónas zuletzt gewohnt hatte. Von dem Augenblick an, als sich mir die Zaubermacht seiner Poesie erschlossen hatte, hatte Jónas in meinen Gedanken einen quasi göttlichen Status erhalten. Ich weiß, dass es vielen Isländern so geht. Als ich jetzt vor diesem Haus stand, bemächtigte sich meiner ein seltsames Gefühl der Trauer, aber auch der Verehrung
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