Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
befand mich in einer furchtbaren Zwickmühle, machte aber keinen Versuch, das Zimmer zu betreten und dieses Gespräch zu unterbrechen, was wahrscheinlich das Ehrenhafteste gewesen wäre.
»Das ist kein Unsinn!«, erklärte der Mann mit der tiefen Stimme. »Du glaubst wohl, dass ich nicht weiß, was los ist? Du glaubst wohl, dass mir keine Geschichten über dich zu Ohren kommen? Alle hier klagen über dich, am meisten über deine Trinkerei, aber auch Begriffe wie Arroganz, Unverschämtheit und Starrsinn fallen. Du brauchst mich nicht als deinen Feind zu betrachten, das bin ich nämlich nicht. Wenn ich nicht immer wieder für dich eingetreten wäre, hättest du hier an der Universität schon längst den Hut nehmen können.«
Der andere Mann, den ich für den Professor hielt, schien keine Antwort auf diese Vorwürfe seines Gegenübers zu wissen.
»Der Alkohol ist aber das Schlimmste«, sagte der mit der tiefen Stimme, »das kann ich nicht länger ignorieren.«
»Scher dich zum Teufel!«, sagte der Professor. »Ich bin nie alkoholisiert zum Unterricht erschienen. Nie!«
»Du warst den ganzen Sommer über betrunken!«
»Das ist eine Lüge, und außerdem geht dich … Es geht dich überhaupt nichts an, was ich in meiner freien Zeit mache.« »Hast du vergessen, wie du dich im Frühjahr aufgeführt hast? Ich weiß, dass du Probleme hast, aber …«
»Hör bloß auf, mich zu bemitleiden«, knurrte der Professor. »Und schmeiß mich ruhig raus, wenn du willst. Das ist besser, als sich diesen elenden Quatsch von dir anhören zu müssen.«
»Wann wirst du endlich mit der neuen Ausgabe fertig sein?«
»Das geht dich nichts an«, erklärte der Professor. »Und jetzt verschwinde! Hau ab, und verschwende dein Mitleid auf jemand anderen! Ich brauche dich nicht, genauso wenig, wie ich diese Universität brauche. Schert euch doch meinetwegen alle zum Teufel!«
»Sie wird wieder in der Königlichen Bibliothek benötigt«, sagte der Mann mit der tiefen Stimme, der sich von den Worten des Professors nicht beirren zu lassen schien. »Du kannst sie nicht jahrelang bei dir aufbewahren. Das geht einfach nicht, Forschung hin, Forschung her.«
Ich hörte, wie sich die Stimmen auf einmal der Tür näherten, machte einen Satz zurück und war die Holztreppe hinuntergesaust, bevor mich jemand sehen konnte. Mein Herz hämmerte wie wild, und mein Atem ging stoßweise, als ich endlich unten auf der Straße ankam und es wagte, mich umzusehen. Niemand hatte mich bemerkt.
Da stand ich nun in der dänischen Spätsommersonne. Das Gespräch, das ich mit angehört hatte, ging mir während des ganzen Heimwegs nicht aus dem Kopf. Die Stellung des Professors an der Philosophischen Fakultät schien aufgrund seiner Alkoholprobleme ziemlich wackelig zu sein. Abends aß ich ganz allein in einem kleinen Restaurant am Rathausplatz dänische Frikadellen mit Spiegelei. Anschließend ging ich früh zu Bett und sah mir die beiden neu erschienenen Romane an, die ich aus Island mitgenommen hatte, sie hießen Taxe 79 und Das Uhrwerk .
Am nächsten Morgen machte ich einen weiteren Vorstoß bei dem Professor und stand zur gleichen Zeit wie am Tag zuvor auf dem Flur vor seinem Büro. Ich klopfte an, doch von drinnen war keine Reaktion zu hören. Ich klopfte noch einmal und dann ziemlich energisch ein drittes Mal. Nichtsgeschah, und allmählich gelangte ich zu der Überzeugung, dass ich diesen Mann wohl niemals treffen würde.
Unruhig trat ich auf dem Flur von einem Fuß auf den anderen, bevor ich mich aufraffte und ausprobierte, ob die Tür verschlossen war. Zu meiner Verwunderung war sie das nicht. Vorsichtig öffnete ich die Tür und wagte mich einen Schritt über die Schwelle. Es schien niemand da zu sein. Ich blickte wieder auf meine Armbanduhr, es war schon nach neun.
Ich fühlte ein weiteres Mal an der Brusttasche meines Jacketts, um mich zu vergewissern, dass ich das Empfehlungsschreiben dabeihatte, und beschloss, im Büro zu bleiben und dort eine Weile zu warten, in der Hoffnung, dass der Professor sich irgendwann blicken lassen würde. Im Zimmer war es dunkel. Schwere Vorhänge hielten das Tageslicht draußen, und ich konnte nirgends einen Lichtschalter entdecken. Als sich meine Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, erblickte ich eines der chaotischsten Büros, die mir je untergekommen sind. Enorme Stapel von Papieren und Büchern lagerten auf dem Boden vor den Bücherregalen, die wiederum sämtliche Wände bedeckten und ihrerseits von
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