Coe, David B. - Die Chroniken von Amarid 01 - Der Fluch des Magiers
ihr seine schwielige Hand auf den Mund. »Nicht schreien«, befahl er, und dann grinste er abermals. »Es hört dich sowieso keiner.«
Also sind alle tot, dachte Cailin, und fing an zu weinen. »Hör mir zu«, sagte der Magier, nahm die Hand von ihrem Mund und brachte sein Gesicht dichter an ihres. »Hör genau zu. Die Leute werden dich finden. Und sie werden dich fragen, wer das hier getan hat. Und dann sagst du ihnen, es waren die Söhne und Töchter Amarids. Du sagst ihnen, dass wir Tobyn-Ser nicht mehr dienen. Von nun an dient Tobyn-Ser uns. Verstanden?«
Cailin weinte weiter und sagte nichts.
»Hast du mich verstanden?«, wiederholte er lauter und schüttelte sie.
Cailin nickte.
Der Mann lächelte. »Gut.« Er nahm eine Feder aus seinem Umhang und reichte sie ihr. Die Feder war schwarz und sehr lang. Der Anblick erinnerte sie an die blaue Feder, die sie immer noch in der Tasche hatte, und an ihren Wunsch. Nun wünschte sie sich, sie wäre tot. »Wenn die Leute kommen«, sagte er, »gibst du ihnen diese Feder.« Dann blickte der Mann auf, schaute etwas über ihrem Kopf an und nickte. Einen Augenblick später spürte Cailin eine Explosion von Schmerz in ihrem Hinterkopf, und sie sackte ins Dunkel zurück.
10
I ndem sie den Westrand des Sumpfes umritten und ihn weiter südlich durchquert hatten, war die Gruppe ein kalkuliertes Risiko eingegangen, das ihre Zeit im Sumpf verringert, aber die Entfernung vergrößert hatte, die sie im Schattenwald zurücklegen mussten. Am nächsten Morgen begannen sie bereits, für diese Entscheidung zu bezahlen. Der üppige Wald in der Südostecke von Tobyn-Ser war einmal als Ducleas Wald bekannt gewesen. Von der Wassergöttin mit einer Unzahl von Quellen, Bächen und glitzernden Stromschnellen gesegnet, durchteilt vom Moriandral und auf drei Seiten von Meer und Golf umgeben, hatte der Wald einmal zu den schönsten Regionen des Landes gehört. Er war ein Zentrum des Handels gewesen und dank seiner Vielzahl an Harthölzern die Heimat der bekanntesten Holzschnitzer in Tobyn-Ser. Aber das war gewesen, bevor Theron sich in einem Hain direkt vor der kleinen Stadt Rholde an seinen ersten Falken gebunden und sein Zuhause verlassen hatte, ein junger Ausgestoßener und Praktizierender jenes Handwerks, das bald als Magie bezeichnet wurde, das die Menschen in seiner Jugend aber noch Hexerei nannten.
All das hatte sich vor tausend Jahren verändert. Mit Therons Fluch und der Rückkehr des unbehausten Geistes des Eulenmeisters zu Therons Hain war Ducleas Wald zu einem Ort der Angst geworden. Innerhalb von fünf Jahren nach Therons Tod waren die Menschen von Rholde, die der unbehauste Magier gnadenlos quälte, aus ihrer Heimat geflohen. Innerhalb von hundert Jahren war der gesamte
Wald, ja das ganze Land hinter dem Sumpf, verlassen worden. Therons Hain wurde der gefürchtetste Ort in Tobyn- Ser, der Name stand für Tod, und aus Ducleas Wald wurde der Schattenwald. Er hatte weder die Ehrfurcht erregende Macht von Tobyns Wald noch die blendende Schönheit von Leoras Wald. Aber der Schattenwald war wilder als die anderen. Er war nun seit hunderten von Jahren unberührt, verändert nur von der Zeit, von den wechselnden Jahreszeiten. Und jetzt, im hellen Sonnenlicht dieses warmen Sommertags, widersetzte er sich den Eindringlingen so störrisch und unermüdlich wie eine Sturmwelle auf dem Meer.
Nichts im Wald war so unangenehm wie das, was sie gerade erst im Sumpf erlebt hatten. Aber das Holz präsentierte Hindernisse und Frustrationen ganz eigener Art. Sie kamen jämmerlich langsam vorwärts, immer wieder aufgehalten von dichtem Brombeergebüsch und Ranken, die sich um die Baumstämme und zwischen ihnen wanden, und von falschen Pfaden, die einen in den Schatten lockten, dann aber ganz plötzlich verschwanden, so wie Kerzen in einer Bö verlöschen. An einigen Stellen standen die Bäume so dicht beieinander, dass die Magier hintereinander reiten mussten. Selbst an offeneren Stellen machten es knorrige Wurzeln und das beinahe undurchdringliche Unterholz unmöglich, im Galopp zu reiten. Jaryd hatte gehofft, neben Alayna durch den Wald reiten zu können, aber er konnte nichts anderes tun, als sein Pferd mit größter Vorsicht durch den Forst zu navigieren. Er musste sich so auf das Reiten konzentrieren, dass er sich kaum bewusst war, dass Ishalla über ihm kreiste. Was Alayna anging, so war sie mit Sartol beschäftigt, der zwar besser aussah und sich besser fühlte als im Sumpf, aber immer noch
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