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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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erscheinende
Kulisse dazu bildete.
    Am späten Vormittag sah ich
Caroline noch mal. Sie rechnete nicht mit mir, aber ich beschloss, sie zu
überraschen. Ich wusste, dass sie als Geschäftsführerin in einem Wohltätigkeitsladen
in der High Street arbeitete, also schaute ich unangekündigt herein, kaum
Besseres als eine schroffe Abfuhr erwartend und deshalb umso erstaunter, nicht
so unwillkommen zu sein, wie ich befürchten musste. Sie machte mir einen Kaffee
und ging mit mir ins hintere Büro, wo wir uns eine halbe Stunde oder sogar
länger unterhielten - hauptsächlich über Lucy -, und an diesem Vormittag kam
Caroline mir warm und freundlich vor, interessiert an dem, was ich machte, und
als ich mich verabschiedete, tat ich es nicht, weil sie, sondern weil ich es so
wollte: Weil sie so nett zu mir gewesen war, dass der Wunsch, wieder mit ihr
zusammen zu sein, beinahe übermächtig wurde und ich genau wusste, dass es nie
wieder so sein würde und mir deshalb gar nichts anderes übrig blieb, als auf
der Stelle zu gehen und meine Reise fortzusetzen.
    Folgen Sie der Autobahn.
    Jetzt waren wir irgendwo
zwischen den Abfahrten 41 und 42. Wir fuhren in nördlicher Richtung, und je
weiter wir nach Norden kamen, desto spärlicher schien der Verkehr zu werden.
Unser Durchschnittsverbrauch lag bei knapp über vier Litern, weil man hier
problemlos mit neunzig Stundenkilometern fahren konnte, ohne von dicht
auffahrenden Menschen mittels Lichthupe zu höherer Geschwindigkeit angetrieben
zu werden. Seltsamerweise schien hier überhaupt kaum jemand die
Höchstgeschwindigkeit zu überschreiten, obwohl es bei dem geringen
Verkehrsaufkommen doch weit weniger gefährlich gewesen wäre als zweihundert
Kilometer weiter südlich. Die Menschen schienen hier entspannter zu sein. Ob es
wohl Statistiken gibt, die zeigen, dass Autofahrer im Norden durchschnittlich
weniger Benzin verbrauchen als Autofahrer im Süden? Es würde mich nicht
wundern.
    Folgen Sie der Autobahn.
    Wenn man stundenlang in
gemäßigtem Tempo über eine Autobahn fährt, bleibt einem nicht viel anderes zu
tun, als auf die wenigen Ablenkungen zu achten, die sich einem bieten - ein
gelbes Absperrband der Polizei, Ausfahrtsschilder nach Penrith, Keswick, Carlisle,
ein großes Schild »Willkommen in Schottland/Fäilte gu Alba«, ein großer, in
Form eines >T< auf einen Berghang gepflanzter Nadelwald, über den der
Schatten einer dunklen Regenwolke hinwegzog -, und ansonsten seinen Gedanken
nachzuhängen. Seltsam, was einem dabei für Erinnerungen in den Kopf schießen,
Dinge, die man längst vergessen oder vierzig oder mehr Jahre verdrängt hatte.
Diesmal war der Gedanke an Francis Chichester der Auslöser. Ich erinnerte mich
an die Fernsehübertragung von seiner Rückkehr, die ich zusammen mit meiner
Mutter angeschaut hatte, aber ich konnte mich nicht gleich erinnern, ob mein
Vater dabei gewesen war oder nicht. Es fiel mir wieder ein, weil an diesem
Nachmittag etwas Seltsames passiert war. Anfangs hatte mein Vater tatsächlich
die Übertragung mit uns zusammen angeschaut, aber dann klingelte es an der
Haustür, und mein Vater ging aufmachen, und ein paar Sekunden später betrat ein
seltsamer Mann unser Haus. »Seltsam« nenne ich ihn nicht nur, weil Mutter und
ich ihn nicht kannten, sondern weil er ... na ja, eben von seltsamer
Erscheinung war. Zum einen trug er einen ausgefallenen Hut mit breiter Krempe
und dazu Klamotten, wie die Leute sie 1967 vielleicht in der Carnaby Street
getragen haben mochten, die man aber in einem Umkreis von achtzig Kilometern um
Rubery noch nie zu sehen bekommen hatte. Außerdem hatte er einen dünnen,
rötlichen Bart - das ist das Einzige, an das ich mich von seinem Gesicht noch
erinnern kann. Der Mann kam nicht zu uns ins Wohnzimmer, und mehr als diesen einen
kurzen Blick durch die offene Wohnzimmertür, als mein Vater ihn in den hinteren
Teil des Hauses führte, bekam ich von ihm nicht zu sehen. Die beiden gingen ins
Esszimmer, um sich zu unterhalten, während Mum und ich weiter die
Fernsehübertragung verfolgten. Ich muss wohl schon im Bett gewesen sein, als
der Mann das Haus wieder verließ, weil ich keinerlei Erinnerung an seinen
Aufbruch habe. Überhaupt hatte ich diesen bizarren, unerwarteten Auftritt in
unserem Haus vollkommen vergessen, bis er mir wieder lebhaft ins Gedächtnis
gerufen wurde, als ich mit Emma über die Grenze nach Schottland fuhr und die M
6 sich zur A 74 (M) verschmälerte. Ich stellte mir augenblicklich die
Frage: Wer

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