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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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war sie für
mich eine Unperson. Sie war da, um für mich, mein körperliches und seelisches
Wohlergehen zu sorgen. Ich weiß, es klingt furchtbar, so unverblümt
ausgesprochen, aber Teenager sind selbstsüchtig und von sich eingenommen, und
ich habe sie damals so gesehen. Und selbst heute noch, mit achtundvierzig,
fällt es mir schwer, mir Frauen im Alter meiner Mutter - also gut, Frauen in
meinem Alter, wenn ihr unbedingt wollt - als sexuelle Wesen vorzustellen.
Natürlich entbehrt das jeglicher Logik. Natürlich ist das falsch. Aber was soll
ich machen, ich bin einfach nur ehrlich, was das betrifft. Letztlich rührte
daher auch mein Entsetzen, als mir am Abend von Poppys Essenseinladung
plötzlich klar wurde, dass sie mich nur eingeladen hatte, damit ich ihre Mutter
kennenlernte.
    Das alles erzähle ich wohl
nur, um zu erklären, wie ich mich fühlte, als ich den elektronischen Sicherheitsklingelknopf
an Alisons Haustür drückte und sie mir öffnete. Wir hatten uns vor über
fünfzehn Jahren zum letzten Mal gesehen. Und die Zeit, die sich mir am
stärksten ins Gedächtnis gebrannt hatte, lag noch zwanzig Jahre weiter zurück;
sie war siebzehn, als mein perverser Vater sie in einem winzigen orangeroten
Bikini fotografiert hatte. Und nun stand sie vor mir: modischer, attraktiver
und eleganter denn je. Fünfzig Jahre alt. Ein ganzes Stück älter als meine
Mutter, als ich sechzehn war und wir alle zusammen im Lake District Urlaub
machten. Sogar älter als meine Mutter, als sie starb.
    »Max!«, sagte sie. »Ist das
schön, dich zu sehen.«
    Sie bot mir ihre Wange, und
ich küsste sie. Die Haut war weich und gepudert. Ich atmete einen ausgeprägten,
aber nicht unangenehmen Duft ein, irgendetwas zwischen Honig und Rosenwasser.
    »Ich freu mich auch
wahnsinnig«, antwortete ich. »Du hast dich kein bisschen verändert.« (Das
erwarten die Leute doch, oder? Egal, ob es wahr ist oder nicht.)
    »Was für ein Glück, dass du
mal in die Gegend kommst. Mum sagt, du bist unterwegs zu den Shetlands,
richtig?«
    »Ja, das stimmt.«
    »Wie aufregend! Komm doch
rein!«
    Sie führte mich durch das
Foyer in eines von zwei oder drei Wohnzimmern im Erdgeschoss, einen Raum, der
minimalistisch und opulent zugleich wirkte. An den Wänden hingen moderne
Malereien, die ungemütliche Nacht wurde von dicken Vorhängen ausgeschlossen,
und verschiedene Bereiche des Raums wurden dezent von indirekten Punktstrahlern
beleuchtet. Ein großes, L-förmiges Sofa mit tiefen, bequem aussehenden Kissen
umschloss einen gläsernen Kaffeetisch, auf dem Bücher und Magazine stilvoll
verteilt lagen. Im Kamin brannte ein munteres Feuer. Ich hielt es für ein
echtes Kaminfeuer, bis Alison sagte: »Wenn dir zu warm ist, dreh ich es
runter.«
    »Nein, nein. Es ist wunderbar.
Ich liebe ein schönes Feuer.«
    Ich bedauerte die Worte, bevor
sie heraus waren. Erinnerte sie sich? Erinnerte sie sich an das
Lagerfeuer-Fiasko in Coniston? Oder war es auch mir nur wieder eingefallen,
weil ich vor zwei Tagen ihren Aufsatz gelesen hatte. Schwer zu sagen. Sie ließ
sich nichts anmerken.
    »Na gut, dann mach's dir warm
und gemütlich. Draußen ist es ja scheußlich genug. Kann ich dir was zu trinken
holen? Ich nehme einen Gin Tonic.«
    »Klingt gut. Ich nehme auch
einen«, sagte ich und vergaß dabei, dass ich uns beide in ein paar Minuten ins
Restaurant fahren musste.
    Als Alison mit den Drinks
zurückkam, nahmen wir auf verschiedenen Seiten des L-förmigen Sofas Platz.
    »Schöner Raum«, bemerkte ich
dümmlich. »Überhaupt ein schönes Haus.«
    »Schön ist es schon«,
pflichtete sie mir bei. »Aber es ist auch viel zu groß. Ich bin die ganze Woche
allein darin herumgegeistert. Ist doch absurd, oder?«
    »Sind die Jungs nicht da?«
    »In der Schule. Internat.«
    »Und Philip?«
    »Unterwegs in Malaysia.
Vielleicht kommt er heute Nacht zurück. Vielleicht auch nicht.« Sie holte Luft.
»Meine Güte, Max, du siehst ... wie soll ich sagen?«
    »Keine Ahnung. Was willst du denn sagen?«
    »Na ja ... bekümmert, glaube
ich. Du siehst ein bisschen bekümmert aus.«
    »Ich bin ziemlich müde«, sagte
ich. »Ich bin seit drei Tagen unterwegs.«
    »Na klar«, sagte Alison. »Das wird es sein.«
    »Es war ein seltsames Jahr«,
fügte ich hinzu. »Hat deine Mutter dir erzählt, dass Caroline mich verlassen
hat?«
    »Ja.« Alison streckte die Hand
aus und legte sie auf mein Knie. »Armer Max. Du kannst mir beim Essen davon
erzählen.«
     
    Während Alison oben noch
letzte

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