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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Ich hatte das unbestimmte Gefühl,
dass sie mich aufmuntern würde. Es gibt ja diesen Spruch »Irgendjemandem geht
es immer noch dreckiger.« In meinem Fall, dachte ich, könnte es ein schwieriges
Unterfangen sein, diesen Jemand sofort zu finden. Aber vielleicht hatte ich
Glück, und es war Donald Crowhurst.
    Es war ein eindrucksvoller
Film. In der Woche vor dieser Reise hatte ich Die sonderbare Reise des
Donald Crowhurst gelesen. Ich hatte es zur Hälfte durch, was für mich schon eine
Leistung war. Ein gut recherchiertes, sehr detailliert geschriebenes Buch, aber
der Film trug einen viel weiter hinein in die Geschichte, ihre Atmosphäre. Er
begann mit Bildern von riesigen, in stürmischer Nacht aufgeworfenen Wellen,
und man hatte sofort ein Gefühl davon, wie verloren und ängstlich Crowhurst
sich da draußen gefühlt haben musste, den Elementen preisgegeben - allein vom
Zuschauen wurde mir kalt und drehte sich mir der Magen um. Dann sah man Fotos,
die er gegen Ende seiner Reise von sich selbst gemacht hatte und auf denen er
gestählt und abgehärtet wirkte: ein grausamer Oberlippenbart, die Augen wachsam
und misstrauisch. Nach einer Reihe dieser Bilder, unterlegt mit einer
zermürbenden, unheilvollen Musik, wird zurückgeblendet zu einer Szene, die mir
einen unmittelbaren Schock des Wiedererkennens verpasste: die Anfahrt auf den
Hafen von Plymouth, gesäumt von jubelnden Menschen, die gekommen waren, um die
Heimkehr Francis Chichesters von seiner Soloumseglung mitzuerleben. (Ein
Ereignis, das ich an einem Sonntag im Frühsommer 1967 zusammen mit meiner
Mutter im Fernsehen verfolgt hatte.) Danach werden die Hauptakteure der
Geschichte vorgestellt: Crowhurst selbst, seine Frau und seine Familie, Robin
Knox-Johnston und Bernard Moitessier, seine wichtigsten Konkurrenten, sein
Sponsor Stanley Best und - vielleicht der eindrucksvollste von allen - sein
Presseagent Rodney Hallworth. Hallworth wird als »eine Figur wie aus den
Romanen von Charles Dickens« eingeführt, eine treffende Bezeichnung für diesen
imposanten, fleischigen Typen mit der onkelhaften Erscheinung, die den
zynischen und erbarmungslosen Zug unter der Oberfläche nur unzureichend verdeckt.
»Viele Menschen, die große Dinge vollbringen, sind eher unauffällige Persönlichkeiten«,
hört man ihn unbekümmert verkünden. »Die Aufgabe des Presseagenten ist es, das
Paket, das womöglich langweilig wie eine alte Blechbüchse ist, in die Hand zu
nehmen und es aufzupolieren - weihnachtlich zu verpacken -, um es attraktiv
erscheinen zu lassen.« Ich vermute, Crowhurst war in dem Szenario die alte
Blechbüchse, und Hallworths Bestreben war es, ihn »aufzupolieren«. Das dürfte
in hohem Maße für die unerträgliche Situation verantwortlich gewesen sein, die
den Mann schließlich in den Wahnsinn getrieben hatte. Der Film erzählt die
Chronik dieses Prozesses mit Anteilnahme und doch in allen schonungslosen
Einzelheiten. Er zeigt das Chaos, das die Kulisse für Crowhursts Abreise aus
Teignmouth bildete, und wie verängstigt er während dieser Zeit wirkte, wenn
die Kamera ihn mal überraschte. (Ich glaube, in diesen Augenblicken wurde -
nicht zum ersten Mal - die Ähnlichkeit mit meinem Vater besonders evident.) Und
dann, als die Reise ihren Fortlauf nahm, wechselte der Fokus nach und nach von
den anspruchsvollen Aufgaben des Einhandsegeins zu Crowhursts Tagebüchern,
seinen Logbüchern, seinen verwirrten Kritzeleien, seinem zerfallenden Geisteszustand.
Die Großaufnahme seines letzten Statements - »DAS IST
DIE GNADE« -
ist besonders erschreckend. Nach dem Ende des Films fühlte ich mich erschüttert
und ausgelaugt.
    Inzwischen war es nach
Mitternacht. Trotzdem beschloss ich, Clive eine SMS zu schicken:
     
    Hallo, habe gerade den Crowhurst-Film
angesehen. Unglaublich! Vielen Dank für die Leihgabe. Bin auf dem Weg zu den
Shetlands - noch nicht am Ziel.
     
    Ich ging ins Bad und putzte
mir die Zähne. Ein paar Minuten später fiel ich ins Bett und war beinahe schon
eingeschlafen, als mein Handy seine vertraute Melodie spielte. Clive hatte
bereits geantwortet. Er hatte geschrieben:
     
    Schön, dass er Ihnen gefallen
hat! Wünsche eine gute Überfahrt und würde mich freuen, von Ihren Heldentaten
zu hören, wenn Sie zurück sind. X
     
    Ich schaute mit einiger
Verwunderung auf die SMS - vielmehr auf das abschließende >X<. Warum
bekam ich ausgerechnet von Clive einen virtuellen Kuss? Von Lindsay, okay, das
konnte ich noch verstehen, aber von Clive? Ich hatte in

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