Coe, Jonathan
unterzubringen, hätte ich mein Glück zweifellos
überstrapaziert.
»Dein Mann ist also in Fernost
unterwegs?«, versuchte ich ein Gespräch in Gang zu bringen, nachdem wir den
Wein probiert hatten, der sich für meinen Gaumen nicht wesentlich von denen
unterschied, die man für fünf Pfund bei Tesco oder Morrisons kaufen kann. »Was
macht er da unten?«
»Ach, Lieferanten besuchen,
nehme ich an«, sagte Alison unbestimmt. »In letzter Zeit ist er fast nur noch
unterwegs. Gerade ist er auf dem Rückflug von Australien.«
»Ich bin auch gerade aus
Australien zurück.«
»Wirklich? Was hast du dort
gemacht?«
»Meinen Vater besucht.«
»Ach, natürlich. Ich hatte
ganz vergessen, dass er dort unten gelandet ist. Und, wie hast du ihn
vorgefunden?«
»Gut ... er ist kerngesund.«
»Nein, ich meine - wie bist du
mit ihm ausgekommen? Wenn ich mich recht erinnere - aber ich kann mich täuschen
-, seid ihr euch nie sehr nah gewesen.«
Darüber wollte ich lieber
nicht reden, um ehrlich zu sein. Lieber hätte ich die ganze Geschichte ans
Licht gezerrt, wäre damit herausgeplatzt, wie leid es mir tat, dass sie meinen
Vater vor dreißig Jahren mit einem Foto von ihr als Wichsvorlage erwischt
hatte, das er gegen ihren Willen geknipst hatte. Aber es war gar nicht so
leicht, die richtigen Worte zu finden. Wie der Zufall es wollte, rettete mich
das Klingelzeichen meines Handys. Ich schaute auf das Display, die Anruferin
war Lindsay Ashworth.
»Ich glaube, da muss ich ran«,
sagte ich.
»Natürlich.«
Alison schenkte uns beiden
noch etwas Wein nach. Ich drückte die Antworttaste meines Telefons.
»Hi«, sagte ich.
»Ahoi!«, sagte Lindsay laut
und irgendwie unerwartet. »Auf, auf, ihr Landratten! Ran an die Schoten und
Toppsegel gehisst! Wie reitet es sich auf den Wellen des Ozeans, alter
Klabautermann?«
»Wie bitte?«
Es entstand eine Pause. »Max, sind Sie das?«
»Ja.«
»Und, wie ist es auf dem
Schiff? Haben Sie eine schöne Kabine?«
»Ich bin nicht auf dem Schiff.
Ich bin in Edinburgh.«
Es entstand ein längeres,
leicht schockiertes Schweigen, gefolgt von einer merklichen Veränderung in
Lindsays Ton. »Sie sind wo?«
»Ich bin noch in Edinburgh.«
»Was machen Sie in Edinburgh?«
»Ich esse mit einer alten
Freundin zu Abend.«
»Max«, sagte Lindsay - und
jetzt war der leise Zorn nicht mehr zu überhören -, »was machen Sie da
eigentlich? Sie sollten längst auf dem Weg zu den verfluchten Shetlands sein!«
»Das weiß ich. Ich fahre morgen.«
»Morgen? Trevor und David
haben ihre Ziele gestern erreicht. Tony hat es an einem Tag hin und zurück
geschafft!«
»Ist mir klar, aber Sie haben
doch gesagt, ich kann es gemütlich angehen lassen.«
»Gemütlich angehen lassen ist
schön und gut, Max. Was noch lange nicht heißt, dass Sie hier eine
Vergnügungsreise auf Firmenkosten machen und jeden ihrer Facebook-Freunde
einzeln besuchen können.«
Da stimmte etwas nicht. Warum
setzte sie mir plötzlich so zu? Vor zwei Tagen war sie noch hilfsbereit und
zugewandt gewesen. Hatte sich inzwischen etwas geändert?
»Lindsay, geht's Ihnen gut?
Ist alles in Ordnung? Ich weiß nicht, für meinen Geschmack reagieren Sie etwas
heftig.«
Es entstand eine Pause am
anderen Ende der Verbindung. Dann seufzte sie. »Es ist alles okay, Max. Alles
okay. Sehen Sie zu, dass Sie endlich hinkommen, tun Sie, was Sie zu tun haben,
und kommen Sie zurück. Okay? Machen Sie einfach weiter.«
»Natürlich. Morgen um fünf bin
ich auf der Fähre. Keine Frage.«
»Gut. Das will ich hören.« Sie
schien sich bereits verabschieden zu wollen, dann fiel ihr noch etwas ein:
»Wie geht's mit dem Video-Tagebuch voran?«
Außer von dem Wohnblock meines
Vaters in Lichfield und der Autobahnraststätte hatte ich keine weiteren Aufnahmen
gemacht.
»Ausgezeichnet. Den Großteil
hab ich mir natürlich für die Überfahrt aufgespart und für die Shetlands
selber. Aber was ich schon im Kasten habe, kann sich auch sehen lassen.«
»Super. Ich wusste, ich kann
auf Sie zählen, Max.«
»Wo sind Sie?«, fragte ich.
Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass sie mich nicht von zu Hause
anrief.
»Noch im Büro. Kleine
Konferenz mit Alan. Ja, ja, Überstunden. Wir müssen ein paar Dinge ... gerade
rücken.«
Nach dieser etwas rätselhaften
Anspielung legte sie auf. Als ich mein Telefon zur Seite legte, bemerkte ich
das kleine Warnzeichen, das mir anzeigte, dass der Akku fast leer war. Ich
musste ihn über Nacht aufladen. Alison sah mich
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