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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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ich
nicht wusste, worauf sie hinauswollte. Statt auf das zu reagieren, was ich ihr
gerade über meine Reise erzählt hatte, schien Alison das Gespräch in ganz
andere Fahrwasser steuern zu wollen, aber dann überlegte sie es sich anders.
Sie legte Messer und Gabel ordentlich nebeneinander auf ihren Teller und sagte:
    »Wir sind eine merkwürdige Generation, findest du
nicht?«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine, dass wir nie
richtig erwachsen geworden sind. Dass wir immer noch an unsere Eltern gefesselt
sind, wie es für Leute, die in den Dreißiger- oder Vierziger Jahren geboren
wurden, überhaupt nicht vorstellbar wäre. Sieh mal, ich bin jetzt fünfzig, um
Himmels willen, und ich glaube immer noch, ich müsste meine Mutter um ... Erlaubnis fragen, wenn ich mein Leben
nach meiner Fasson leben will. Ich habe es immer noch nicht geschafft, aus dem
Schatten meiner Eltern zu treten. Geht's dir nicht auch so?«
    Ich nickte, und Alison fuhr fort:
    »Vor ein paar Tagen erst hab
ich eine Sendung im Radio gehört. Es ging um die Young British Artists. Sie
hatten drei oder vier von denen ins Studio geholt, und die erinnerten sich an
die ersten Ausstellungen, die sie zusammen gemacht hatten - diese
Ausstellungen in der Saatchi Gallery damals, Ende der Neunziger Jahre. Und es war
nicht nur so, dass keiner von denen etwas Interessantes zu seinen eigenen
Arbeiten zu sagen hatte, die ganze Zeit ging es nur darum - abgesehen davon,
dass sie kreuz und quer miteinander gebumst hatten -, wie >schockierend<
das alles war, und wie wichtig es damals für sie war, was ihre Eltern zu ihren
Arbeiten zu sagen hatten. Was hat deine Mutter gesagt, als sie das Bild gesehen
hat, wurde einer von ihnen mehrmals gefragt. Und ich ... weißt du, vielleicht
täusche ich mich, aber ich bin überzeugt, als Picasso Guernica gemalt hat, hat er keinen
Gedanken daran verschwendet, was seine Mutter wohl dazu sagen würde. Irgendwie
denke ich, dass er über solche Dinge längst hinaus war.«
    »Ja - genau das hab ich auch
gedacht«, verkündete ich eifrig. »Donald Crowhurst zum Beispiel, der hatte
schon vier Kinder, als er sich aufmachte, um die Welt zu segeln, und dabei war
er erst sechsunddreißig. Du hast recht, die Menschen waren so ... erwachsen zu der Zeit.«
    »Zu welcher Zeit?«, fragte
Alison, und mir wurde klar, dass sie natürlich keine Ahnung hatte, wer Donald
Crowhurst war.
    Vielleicht war es keine gute
Idee, von dieser Geschichte anzufangen. Oder besser, es hätte eine gute Idee
sein können, ihr von Donald Crowhurst zu erzählen, wenn ich dabei geblieben
wäre. Aber sehr bald erzählte ich ihr nicht mehr von der unheilvollen
Weltumseglung, sondern ich begann ihr zu erklären, welche Parallelen ich
zwischen seiner und meiner Situation erkannt zu haben meinte und wie stark ich
mich mit ihm identifizierte. Und auch wenn sie kaum etwas zu verstehen schien,
fiel mir auf, dass sie mich mit noch sorgenvollerem Blick ansah als zuvor.
    »Was ist los?«, fragte ich.
»Warum siehst du mich so an?«
    »Dieser Crowhurst«, sagte
Alison, »der ist also auf eine Weltumseglung gegangen, obwohl er gar nicht
dafür ausgerüstet war, und als er merkte, dass er es nicht schaffen konnte,
beschloss er, die Reisedaten zu fälschen, und als ihm klar wurde, dass er auch
damit nicht durchkommen würde, verlor er den Verstand und beging Selbstmord -
ist es so gewesen?«
    »Mehr oder weniger.«
    »Und mit diesem Menschen
beginnst du dich zu identifizieren, richtig?«
    »Ein bisschen, ja.« Ganz
plötzlich hatte ich das deutliche Gefühl, bei einem Psychiater auf der Couch zu
liegen. »Hör mal, ich verliere nicht den Verstand, falls du darauf hinaus
willst.«
    »Sei nicht albern. Aber du
bist zweifellos sehr müde, du bist viel zu lange mit dir allein gewesen, du
fängst sogar schon an, dich mit deinem Navi zu unterhalten, und morgen fährst
du in eine der einsamsten Gegenden des ganzen Landes. Wundert es dich, dass ich
ein paar Alarmglocken höre?«
    »Ich bin okay, wirklich.«
    »Es mag eine Weile her sein,
aber ich habe mal ein Examen als Psychotherapeutin abgelegt.«
    »Darüber bin ich mir im
Klaren.«
    »Ich kann also ein bisschen
beurteilen, was du gerade durchmachst. Ich weiß, was eine Depression ist.«
    »Okay - danke für deine
Anteilnahme.«
    »Wo schläfst du heute Nacht?«
    »Weiß ich noch nicht. Ich such
mir das nächste Travelodge.«
    »Nein. Kommt gar nicht
infrage. Du kommst mit zu mir. Du kannst in einem der Gästezimmer schlafen.«
    »Wie darf ich

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