Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
Vom Netzwerk:
das jetzt
verstehen - stellst du mich unter Suizid-Beobachtung?«
    Alison seufzte. »Ich denke
einfach nur, du solltest mal ordentlich ausschlafen, morgen nicht zu früh
losfahren und dich ein bisschen verwöhnen lassen.«
    Ich suchte vergeblich nach
Einwänden, nur ein einziger fiel mir ein: »Mein Koffer liegt im Auto.«
    »Gut. Dann gehen wir zu deinem
Auto, holen deinen Koffer, nehmen uns ein Taxi und fahren zu mir nach Hause.
Nichts leichter als das.«
    So ausgedrückt, klang es wie
die vernünftigste Sache der Welt.
    Im Taxi passierte etwas Unerwartetes. Wir saßen Seite
an Seite auf den Rücksitzen, in angemessenem Abstand zueinander, als Alison
näher an mich heranrückte, sich an mich schmiegte und ihren Kopf an meine
Schulter legte. »Halt mich fest, Max«, flüsterte sie.
    Ich legte meinen Arm um sie.
Das Taxi holperte über die North Bridge, vorbei am Bahnhof.
    »Ich weiß genau, was du gerade tust«, sagte ich.
»Hmmm?«
    »Das ist doch eine dieser
Techniken, die du in deiner Ausbildung gelernt hast, oder? Du hast mein Ego
verletzt, indem du mir das Gefühl gegeben hast, hilfsbedürftig zu sein, und
jetzt baust du es wieder auf, indem du mir das Gefühl gibst, stark und beschützend
zu sein.«
    Sie schaute hoch zu mir. Ihre
Augen glitzerten verführerisch in der Dunkelheit. Das leicht zerzauste
kastanienbraune Haar wartete nur darauf, gestreichelt zu werden.
    »Überhaupt nicht«, sagte sie.
»Ich freue mich einfach nur, dich wiederzusehen, und kann nichts Schlimmes
dabei finden, wenn zwei alte Freunde, die sich von Kindesbeinen an kennen, sich
in den Arm nehmen.«
    Es fühlte sich anders an als
eine Umarmung unter Freunden, aber das sagte ich nicht.
    »Bin gespannt, ob Philip gekommen ist«, murmelte sie.
    »Erwartest du ihn heute Abend?«
    »Wenn er sich an seinen Zeitplan hält, ja.«
    »Stört es ihn, wenn ich da bin?«
    »Nein, weshalb?«
    »Vermisst du ihn, wenn er auf Reisen ist?«
    »Ich fühle mich sehr einsam.
Ich weiß nicht, ob es dasselbe ist, wie ihn vermissen.«
    Plötzlich und zu meinem
eigenen Erstaunen dachte ich mir, dass es schön wäre, wenn Alisons Ehemann an
diesem Abend nicht nach Hause kommen würde. Ich nahm sie etwas fester in den
Arm als vorher, und sie schmiegte sich voller Behagen an mich. Ich streifte mit
den Lippen über ihr Haar und atmete seinen warmen, einladenden Duft.
    Würde es tatsächlich
passieren, heute, mehr als dreißig Jahre, nachdem es eigentlich hätte passieren
sollen? Würde ich endlich mit Alison schlafen? Würde diese eine, letzte,
erlösende Chance sich mir bieten? Ein Teil von mir sehnte sich nach diesem
Ausgang, ein anderer Teil geriet in Panik und suchte schon nach Ausreden. Und
an denen mangelte es nicht.
    Na klar - Alison war
verheiratet. Verheiratet und hatte Kinder. Wenn ich nicht aufpasste, fiel mir
bei der Geschichte die verachtenswerteste Rolle von allen zu: die des
Familienzerstörers. Woher sollte ich wissen, ob dieser Philip nicht der
netteste, anständigste Mann auf Gottes Erde war? Vielleicht vergötterte er
seine Frau und wäre ein gebrochener, vernichteter Mann, wenn jemand zwischen
sie käme? Er war mit seiner Arbeit verheiratet. Na und? Machte ihn das etwa zu
einem schlechten Ehemann, einem schlechten Vater? Im Gegenteil, es machte ihn
zu einem guten Ehemann, einem guten Vater, denn dahinter stand ja die Absicht,
seiner geliebten Familie jetzt und in aller Zukunft den höchsten Lebensstandard
bieten zu können. Und jetzt kam ich und wollte diesem Ausbund an väterlichem
Stolz und ehelicher Treue Hörner aufsetzen!
    Ich zog den Arm von Alisons
Schulter zurück und setzte mich gerade hin. Sie sah mich etwas verwundert an,
dann setzte auch sie sich auf, ordnete ihre Frisur und stellte den angemessenen
Abstand zwischen uns wieder her. Ohnehin waren wir fast zu Hause.
    Im Haus zog sie ihren Mantel
aus und führte mich in die Küche.
    »Willst du einen Kaffee?«,
fragte sie. »Oder etwas Stärkeres?« Als ich zögerte, fügte sie hinzu: »Ich
mache mir einen Scotch.«
    »Hervorragend. Ich nehme auch
einen.«
    Ich sah sie lange an, während
sie die Flasche Laphroaig nahm und die goldene Flüssigkeit in zwei Gläser
schenkte, und musste feststellen, dass sie sich ausgezeichnet gehalten hatte
für eine Frau von fünfzig. Sie und Caroline hatten es geschafft, dass ich mich
meiner schämte. Wenn ich wieder zu Hause war, würde ich in ein Fitnessstudio
gehen. Und meine Ernährung verbessern. Zurzeit lebte ich fast ausschließlich
von

Weitere Kostenlose Bücher