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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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nachdem der ganze Albtraum dessen, was vorher war,
endgültig überstanden ist, ihren Zweck erfüllt. Nicht nötig, noch mehr Worte
auf Papier zu schütten. Wenn wir alle in einem Zustand des vollkommenen Glücks
leben würden - ohne Konflikte, Spannungen, Neurosen, Ängste, ungelöste
Probleme, monströse persönliche und politische Ungerechtigkeiten, ohne all den
Mist -, dann müssten all jene, die nur in Geschichten Trost finden konnten,
nicht länger bei so etwas Zuflucht suchen, oder? Sie könnten überhaupt auf Kunst
verzichten. Deshalb kann ich darauf verzichten, und ihr auch, von nun an: Ihr
müsst nichts mehr über die Pläne lesen, die Alison und ich an diesem Morgen
fassten, über die langweiligen, nüchternen Einzelheiten ihrer Trennung und
Scheidung, darüber, dass wir ein paar Monate später in ein Haus in Morningside
zogen, oder wie lange ich gebraucht habe, mich daran zu gewöhnen, dass ich zwei
halbwüchsige Stiefsöhne hatte, die mir gegenüber zunächst wachsam und
misstrauisch waren, bis wir sie auf unsere erste Ferienreise nach Korsika
mitnahmen, wo sich alles auflöste, Ressentiments und schlechte Gefühle unter
der Sonne des Mittelmeeres dahinschmolzen, und ...
    Gut. Wie gesagt, das alles
müsst ihr gar nicht mehr wissen. Zumal kein Wort davon wahr ist.
     
    19
     
    Nein, kein Wort davon ist
wahr, aber wisst ihr was, ich glaube, dass ich die Sache mit der Schreiberei so
langsam in den Griff bekomme. Vielleicht trete ich sogar in Carolines
Fußstapfen und versuche nun meinerseits, in Watford eine Literaturgruppe ins
Leben zu rufen. Ich finde, ein paar Abschnitte des vorherigen Kapitels können
sich absolut mit ihrem Versuch über unseren Urlaub in Irland messen. Hat es
euch gefallen, wie ich bei der Beschreibung der pikanten erotischen
Einzelheiten jeden Satz mit »Ich habe vergessen« angefangen habe? Das ist
Schreiben auf hohem Niveau. Es hat eine Weile gedauert, bis ich darauf gekommen
bin.
    Und ich kann sagen, dass es
mir großen Spaß gemacht hat. Ich wusste gar nicht, wie befriedigend es sein
kann, sich Dinge auszudenken. Ich hatte großen Spaß an meiner kleinen Fantasterei
über Alison und unsere Nacht der Leidenschaft und unser gemeinsames Leben
danach. Eine Zeitlang habe ich mich gefühlt, als wäre ich wirklich wieder in
ihrem Haus, in ihrem Schlafzimmer, als wäre es wirklich so passiert und nicht
anders. Denn die elende, jämmerliche, verflucht vorhersehbare Wahrheit lautet
wie folgt:
    Dass ich wie ein Marmorblock
dastand, während sie sich nach Kräften mühte, mich anzumachen.
    Dass sie schließlich aufgab
und mit den Worten nach oben ging: »Ich glaube, ich verschwende hier meine
Zeit, aber für alle Fälle, Max, lasse ich die Schlafzimmertür offen.«
    Dass ich meinen Scotch
austrank und zehn Minuten später ins Foyer ging, wo mein Koffer stand.
    Dass mir klar wurde, dass ich
keine Ahnung hatte, in welchem Zimmer ich schlafen sollte, und deshalb ins
Wohnzimmer ging, mich auf das L-förmige Sofa setzte und dort lange sitzen
blieb, den Kopf auf die Hände gestützt.
    Dass ich schließlich
beschloss, mich einfach auf dem Sofa langzumachen, den Koffer aufschnappen
ließ, um nach meinem Waschbeutel zu suchen, und mir dabei der blaue Ordner
meines Vaters in die Hände fiel.
    Dass ich ein paar Gedichte
überflog und wie immer kein Wort verstand.
    Dass ich eine Weile auf die
Titelseite des zweiten Abschnitts starrte. The Rising Sun: Eine
Erinnerung. Wohl
wissend, dass mir nicht gefallen würde, was mich dort erwartete.
    Dass ich Alison oben
herumtappen, sich fürs Bett fertigmachen hörte.
    Dass ich wartete, bis oben
alles ruhig war, noch einen Scotch trank, dann noch eine Viertelstunde wartete,
bevor ich hinauf auf die Toilette ging, anschließend vor ihrer offenen Schlafzimmertür
stehen blieb, auf ihre leisen, regelmäßigen Atemzüge lauschte, die in der
Stille des Hauses sehr deutlich zu hören waren, und dann auf Zehenspitzen
zurück nach unten schlich, den Ordner zur Hand nahm und wieder auf das Titelblatt
starrte.
    Dass ich mich erinnern kann,
wie draußen ein Auto durch die schneebestäubte Straße fuhr, die Stille der
Nacht störte. Und dass ich dann zu lesen anfing.
     
    LUFT
     
    The Rising Sun: Eine
Erinnerung
    Juni 1987
     
    Letzte Woche musste ich nach
London fahren, um den letzten Papierkram für meine Ausreise nach Australien zu
erledigen; ich werde dieses Land in ein paar Tagen verlassen - und vielleicht
nie zurückkehren. Nun hat diese London-Fahrt ein paar starke

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