Coe, Jonathan
Erinnerungen in
mir wachgerufen, die ich unbedingt vor meiner Abreise noch zu Papier bringen
will.
Die Formalitäten im Australia
House nahmen nicht so viel Zeit in Anspruch wie befürchtet. Und weil ich nun
den größten Teil des Nachmittags zur freien Verfügung hatte, beschloss ich,
einen Spaziergang durch die City zu unternehmen. Um der alten Zeiten willen.
Ich hatte meine Fotokamera dabei - meine treue Kodak Retina Reflex IV,
erstanden in den Sechziger Jahren, mit der mir noch kein Foto misslungen ist -
und wollte mir eine bleibende Erinnerung an all die Orte schaffen, die mir
einmal so vertraut waren - so überhaupt noch Spuren davon zu finden waren.
Während ich im gleißenden
Sonnenlicht durch die Fleet Street und Ludgate Hill hinauf zur St Paul's
Cathedral und durch deren langen Schatten weiter zur Cheapside ging, von wo aus
ich den wuchtigen Portikus der Bank von England sehen konnte, wurde mir klar,
dass ich vor fast drei Jahrzehnten - siebenundzwanzig Jahren, um genau zu sein
- zuletzt durch diese Straßen gegangen war. Alles hatte sich verändert. Alles.
Die alte City of London, die am Ende der Fünfziger Jahre für ein paar
intensive, verstörende Monate der Mittelpunkt meines Universums gewesen war,
hatte eine Revolution erlebt, die mir schon in jenen weit zurückliegenden Tagen
überfällig erschienen war. Eine Revolution der Architektur, der Mode und
endlich auch - so konnte man in den Zeitungen lesen - der Arbeitsweisen. Alle
die vornehmen, hochmütigen alten Gebäude standen noch da - die Guildhall und
das Mansion House, die Königliche Börse und St Mary-Ie-Bow -, aber es hatten
sich Dutzende neuer Bürotürme zwischen sie gedrängt, von denen einige bereits
aus dem geistigen Dunkel der Sechziger Jahre stammen, andere erst wenige Jahre
alt waren, hoch ragend, schlank und funkelnd, passend zu dem Jahrzehnt, dessen
wir uns gerade erfreuen. Die Männer (Frauen sieht man noch nicht viele) tragen
durchweg Anzüge, aber modischere, aggressivere Anzüge, als ich sie in
Erinnerung habe, und nicht einen einzigen Kopf mit einer Melone drauf habe ich
zu sehen bekommen. Und was die Arbeitsweisen betrifft ... ja, glaubt man den
Berichten, werden inzwischen fast alle Geschäfte vor Bildschirmen getätigt. Die
Begegnung von Angesicht zu Angesicht, der einvernehmliche Handschlag auf dem
Börsenparkett gehören der Vergangenheit an. Es werden keine Händel mehr im
Gresham Club bei Portwein und Zigarren abgeschlossen, im George & Vulture
wird kein Branchenlatein in kultivierten Zwischentönen mehr getauscht. Offenbar
nehmen die Händler ihren Lunch - in Zellophan gewickelte Sandwiches, zu
absurden Preisen von Catering-Services geliefert - heutzutage am Schreibtisch
ein, ohne den Blick vom Monitor zu wenden, auf dem vom frühen Morgen bis zum
späten Abend flimmernde Zahlen von Gewinnen und Verlusten künden. Was hätte ich
als ahnungsloser Einundzwanzigjähriger in einer solch hektischen und
ungeduldigen neuen Welt verloren gehabt?
Ja, ich war erst einundzwanzig,
als ich zum ersten Mal nach London kam. Wenige Wochen vor Ende des Jahres 1958.
Ich war nicht auf der Universität gewesen, hatte mich zwei Jahre lang in der
langweiligen Anonymität einer Beschäftigung als Archivkraft in Lichfield
verkrochen, aber ein schlummernder aufrührerischer Impuls - vielleicht meine
jugendliche Panik davor, mein Leben lang so eingeengt zu bleiben - hatte mich
schließlich doch aus der Sicherheit meiner Heimatstadt und meines Elternhauses
nach London getrieben - um dort mein Glück zu suchen, wie es so schön heißt.
Und wenn nicht mein Glück, dann etwas noch Flüchtigeres und Ungreifbareres -
meine Berufung, meine Bestimmung. Denn ohne meiner Familie davon zu erzählen
(oder meinen Freunden, hätte ich denn welche gehabt), hatte ich mit dem
Schreiben begonnen. Dem Schreiben! Diese Anmaßung wäre nicht toleriert worden,
wenn meine Eltern davon gewusst hätten. Von meinem Vater hätte ich gnadenlosen
Spott geerntet - besonders, wenn er dahinter gekommen wäre, dass meine
Instinkte der Lyrik zuneigten, und noch dazu der »modernen« Lyrik - dieser
scheinbar formlosen, scheinbar sinnfreien kulturellen Verwirrung, die von den
geistigen Normalverbrauchern der unteren Gesellschaftsschichten mit besonderer
Inbrunst verachtet wurde. Lichfield, der Geburtsort Samuel Johnsons, war in
den Fünfziger Jahren gewiss kein Ort für einen ambitionierten Dichter, während
London - so hörte man - von Dichtern überflutet war. Ich stellte mir
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