Coe, Jonathan
denn«, sagte er. »In der
Wigmore Hall wird heute Abend Faure gegeben. Unter anderem das Streichquartett
e-Moll. Ich habe zwei Karten in Reihe eins besorgt, wo ich mich in den köstlichen
Nebeln französischer Selbstbeschau zu verlieren gedenke. Hier ist das zweite
Ticket. Wir treffen uns um sieben in The Cock & Lion ein paar Häuser weiter
in derselben Straße. Sollten Sie zuerst dort sein, hätte ich gerne einen
doppelten Gin Tonic mit Eis. Bis dahin.«
Er gab mir noch mal die Hand,
hängte sich einen schwarzen Kaschmirmantel um die Schultern und empfahl sich
mit einer schwungvollen Abschiedsgeste. In schockiertem Schweigen schaute ich
ihm nach. Aber der Schock verlor sich, und eine pochende, wahnsinnige Freude
ergriff Besitz von mir.
Roger Anstruther war zweifellos
vollkommen anders als jeder Mann, dem ich in meinem kurzen, begrenzten Leben
bis dahin begegnet war.
Musik war seine Leidenschaft,
und auch wenn er selber kein Instrument spielte, verfügte er über ein
makelloses und umfassendes Wissen über das klassische Repertoire vom Barock
bis zur zeitgenössischen Musik. Aber er verstand es auch, mit absoluter
Kompetenz über jede andere Form von Kunst zu reden. Architektur, Malerei,
Drama, Roman - es schien nichts zu geben, das er nicht gelesen, gesehen, von dem
er nicht gehört, über das er nicht nachgedacht hatte. Und dabei war er nur ein
Jahr älter als ich. Wie hatte er sich all dieses Wissen, die Erfahrung - vor
allem ein solches Selbstvertrauen - in so kurzer Zeit aneignen können? Die Diskrepanz
zwischen uns (vergrößert noch durch Rogers hochtrabende, oberlehrerhafte, hin
und wieder arrogante, bisweilen geradezu tyrannische Art) konnte nur dazu
führen, dass ich mir noch engstirniger, provinzieller und schlechter ausgebildet
vorkam, als dies sowieso schon der Fall war.
Und so nahm jetzt wenigstens
etwas seinen Anfang, was ich als meine wahre Ausbildung begreifen durfte. Roger
und ich gingen beinahe jeden Abend zusammen aus. Symphoniekonzerte in der Royal
Festival Hall, experimentelles Theater in Soho und Bloomsbury, die
Nationalgalerie, Kenwood House, Dichterlesungen in den fensterlosen Kellern
oder Versammlungszimmern schäbiger Pubs in Hampstead. Und wenn gerade mal
nichts Interessantes stattfand, machten wir bis tief in die Nacht Spaziergänge
durch die labyrinthischen, verlassenen Nebenstraßen Londons, und er zeigte mir
architektonische Besonderheiten, seltsame Gebäude, vergessene Wahrzeichen, an
denen manches verborgene Fragment Londoner Stadtgeschichte hing. Auch hier
erschien sein Wissen unerschöpflich. Er war ein gleichermaßen begeisterter,
eigenwilliger, faszinierender, unermüdlicher und vertrackter Zeitgenosse. Er
konnte leichtsinnig und liebenswert sein, aber auch ungeduldig und grausam. Er
beherrschte mich vollkommen. Es war eine Beziehung, die (zunächst) unser beider
Bedürfnisse ideal befriedigte.
Viele unserer gemeinsamen
Abende begannen gleich nach der Arbeit, in einem Pub mit Namen The Rising Sun
im Cloth Fair nahe dem Smithfield Market. Normalerweise war ich vor ihm da, um
kurz nach fünf, bestellte Roger seinen Gin Tonic und wartete auf ihn. Ich hatte
erfahren, dass er auf dem Börsenparkett arbeitete, aber nicht in so hoher
Stellung, wie man hätte vermuten können. Er war einer von denen, die man als
»Blue Buttons« bezeichnete - ein Mann auf der untersten Ebene in der Hierarchie
des Handels, im Grunde ein Botenjunge wie ich, auch wenn er natürlich näher am
Zentrum des Geschehens war, als ich es je sein würde. Weil die Männer, die auf
dem Parkett tatsächlich mit Aktien handelten, nicht direkt mit Käufern
interagieren durften, nahmen sie ihre Aufträge von Maklern entgegen, von denen
viele kleine Büros (oder »Boxen«) am Rande des Parketts hatten. Die Blue
Buttons waren Mittelsmännerzwischen Maklern und Händlern: Sie beförderten
Nachrichten, gaben Anweisungen weiter und mussten während der Handelszeiten
jederzeit für Aufträge der Händler zur Verfügung stehen, wie alltäglich oder
exzentrisch diese auch sein mochten. Ich konnte mir nichts anderes vorstellen,
als dass diese Arbeit für einen wie Roger mit seiner (wie ich damals glaubte)
übernatürlichen Intelligenz und seinen hochfliegenden Ambitionen eine sehr
erniedrigende Angelegenheit war.
»Na ja, lange mache ich das
nicht mehr«, sagte er eines Abends zu mir, als wir im Rising Sun, in dem sich
ein rechter Mief ausbreitete, während draußen auf dem Cloth Fair der
Januarwind die Schneeflocken
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