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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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tanzen ließ, vor unseren Drinks saßen. »Was die
Hochfinanz angeht, könnte meine Ernüchterung nicht umfassender sein.«
    Hochtrabende Worte für einen
Mann von zweiundzwanzig, sollte man meinen. Aber das war der Ton, in dem Roger
sich auszudrücken pflegte.
    »Mir war von Beginn an klar,
dass die Börse ein beängstigender Ort ist«, fuhr er fort. »Aber mir ist auch
nicht entgangen, dass die Leute, die dort arbeiten - und wenn sie noch so
grauenhafte Langweiler sind - nie knapp mit Geld zu sein scheinen. Natürlich
haben viele von ihnen es von Mummy und Daddy geerbt. Fast alle Börsenmakler
sind in Eton zur Schule gegangen - und dazu noch die Hälfte aller Händler -,
und was eine solche Schulbildung für einen Preis hat, wissen wir ja nur zu gut.
Aber sie ließen es sich trotzdem angelegen sein, den Platz für normale
Gymnasiasten wie mich zu öffnen, und ich habe mir gedacht, wenn ich erst einmal
eine Ahnung davon bekommen habe, wie Summen von Geld an einem solchen Ort hin
und her geschoben werden, dann würde wohl auch etwas davon bei mir hängen
bleiben. Aber das war wohl eine naive Vorstellung. Außerdem fehlt es mir an der
nötigen Geisteshaltung. Ich liebe das Geld nicht genug, um mein Leben lang an
nichts anderes zu denken. Das unterscheidet mich von Crispin, verstehst du?«
    Crispin Lambert hieß der
Händler, für den (oder mit dem, wie Roger es ausdrückte) er arbeitete.
    »Wie kommst du mit ihm aus?«,
fragte ich.
    »Ach, eigentlich ganz gut«,
sagte er. »Ich nehme an, nach den elenden Standards dieser Institution ist er
ein ganz anständiger Kerl. Aber er ist eben auch ein typisches Produkt des
Systems. Auf der Oberfläche der personifizierte Charme. Wenn du ihm mal
begegnen solltest, wirst du ihn für den freundlichsten Menschen halten, der dir
je untergekommen ist. Aber das ist eine Maske, mit der er lediglich seine
fundamentale Rücksichtslosigkeit kaschiert. Er liebt das Geld mehr als alles
andere, er will Geld haben, und er nutzt die ganze Palette der ihm zur
Verfügung stehenden Mittel, um an Geld zu kommen. Das meinte ich, als ich
gesagt habe, dass diese Leute die größten Langweiler sind. Für mich ist Geld
Mittel zum Zweck. Ich brauche es, um Reisen machen, mir in Würde die Welt
anschauen zu können. Ich möchte mir die besten Plätze in der Oper leisten. Ich
würde gerne ein, zwei Picassos mein Eigen nennen. Aber für Crispin und
seinesgleichen ist das Geld das Ziel. Darüber hinaus hat er keine Ambitionen.
Es tut mir leid, aber eine solche Weltsicht finde ich ziemlich trostlos. Schal.
Oberflächlich. Ohne Inhalt. Ich meine, was geht in den Köpfen solcher Leute
vor? Was haben sie für ein Innenleben?«
    »Hat er denn keine ...
Zeitvertreibe? Hobbys, Freizeitbeschäftigungen?«
    »Er ist Pferdefanatiker«, räumte
Roger ein. »Studiert eifrig ihre Form. Kennt jeden Trainer von jedem Stall im
Lande mit Namen. Aber ich bin nicht sicher, dass es ihm wirklich Freude macht.
Er wettet, um zu gewinnen. Da geht es auch wieder nur um Geld, verstehst du?«
    Ein paar Wochen später sollte
ich Crispin Lambert kennenlernen. Inzwischen hatte ich in meiner Beziehung zu
Roger schon mehrere beunruhigende Veränderungen erleben müssen. Zum einen hatte
ich erfahren, mit welchem Talent, beinahe möchte ich sagen mit welcher Freude
er peinliche Situationen heraufbeschwor. Wir besuchten eine moderne
Inszenierung von Shakespeares Titus Andronicus, die in den Diensträumen des
Rathauses von Stockton-on-Tees spielte. Von den Kritikern war diese Innovation
mit einigen Vorschusslorbeeren bedacht worden, aber Roger war nicht im
Geringsten beeindruckt. Zwanzig Minuten nach Beginn der Aufführung erhob er
sich von seinem Sitz und erklärte mit seiner lautesten Stimme: »Ich habe den
Eindruck, dass ein paar absolut talentfreie Einfaltspinsel uns hier auf den Arm
nehmen wollen, meine Damen und Herren. Diese Kretins ziehen den größten
Dramatiker, den dieses Land je hervorgebracht hat, durch den Kakao, und ich bin
nicht bereit, das noch eine Sekunde länger zu ertragen. Jeder, der mich bei
meinem unverzüglichen Abgang aus diesem Saal in das nächstgelegene Pub
begleiten mag, soll mir willkommen sein. Komm, Harold.« Zu dem Anlass trug er -
wie so oft - einen schwarzen seidengefütterten Umhang, den er sich jetzt in
einer unwiderstehlichen Geste effektvoll um die Schultern warf, bevor er über
die Füße der anderen Zuschauer in unserer Reihe in Richtung Ausgang stolperte,
mich hinter sich herziehend, während der

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