Coe, Jonathan
lange,
weinberauschte Gespräche mit Dichterkollegen in den Wohnschlafzimmern der
Südlondoner Vororte vor, verwegene Abende in den Pubs von Soho, in denen man in
einer von Unkonventionalität und Zigarettenrauch geschwängerten Atmosphäre
Dichterlesungen beiwohnte. Ich stellte mir ein Leben vor, in dem ich die
bedeutsame Erklärung »Ich bin ein Dichter« abgeben konnte, ohne mit
Verständnislosigkeit oder Spott rechnen zu müssen.
Ich habe eine lange Geschichte
aufzuschreiben, deshalb muss ich voranmachen. Ziemlich leicht fand ich ein
Zimmer in einem Gemeinschaftshaus nahe des Highgate-Friedhofs und - mittels
einer Kleinanzeige in der London Evening News - einen Halbtagsjob als
Botenjunge für die Börsenmakler-Firma Walter, Davis & Warren. Sie hatten
ihren Sitz in der Telegraph Street, und ein großer Teil meiner Arbeit bestand
darin, Post zur zentralen Verrechnungsstelle für börsennotierte Firmen in
Blossom Inn zu tragen oder von dort abzuholen: ein System, welches dafür
sorgte, dass alle Überweisungen und Scheckeinreichungen noch am selben Tag
bearbeitet wurden. (So etwas wäre heutzutage, im Zeitalter der Faxgeräte und
des elektronischen Transfers nicht mehr nötig.) Mir stand eine Stunde
Mittagspause zu, von 13 bis 14 Uhr, und an den meisten Tagen aß ich im Hill's
zu Mittag, einem altmodischen City-Restaurant in der Nähe der Liverpool Street
Station, wo man - sofern man sich nicht an den grün gefliesten Wänden störte,
die ihm den Charakter einer öffentlichen Toilette gaben -
Rindfleisch-Nieren-Pastete mit Kartoffelbrei und Apfelstreusel zum Nachtisch
für eine halbe Krone essen konnte.
Die einsame Mahlzeit ist eine
problematische Verrichtung. Ich hatte weder in der City noch sonst wo in London
Freunde und niemanden, mit dem ich beim Mittagessen reden konnte. Deshalb
hatte ich oft ein Buch dabei - meist einen schmalen Band mit zeitgenössischer
Lyrik, in aller Regel in der öffentlichen Bücherei in Highgate ausgeliehen. Das
Restaurant war immer brechend voll, nicht selten fand man sich unter sechs
fremden Gesichtern an einem Sechsertisch wieder. Eines Tages, Anfang Januar
1959, schaute ich von meinem Buch hoch - ich hatte Eliots Vier Quartette dabei - und sah in das Gesicht
eines bärtigen Mannes etwa meines Alters, der mich eindringlich fixierte. Seine
Gabel verharrte über einem Teller mit Leber und Zwiebeln; statt zu essen,
blickte er mir tief in die Augen und deklamierte mit lauter und perfekt
modulierter Stimme:
Jetzige Zeit und vergangene
Zeit
Sind vielleicht gegenwärtig in
künftiger Zeit
Und die künftige Zeit
enthalten in der vergangenen.
Ist aber alle Zeit ewige
Gegenwart,
Wird alle Zeit unwiderrufbar.
Die anderen Esser an unserem
Tisch schauten leicht verstört zu uns herüber. Vielleicht hat sogar jemand mit
dem Kopf geschüttelt. Zu einem Fremden mit solch lauter Stimme zu sprechen, an
einem öffentlichen Ort, und sich dabei einer solch merkwürdigen Ausdrucksweise
zu bedienen, wurde in der City zweifellos als eklatanter Bruch der Etikette
wahrgenommen. Und ich für meinen Teil war perplex.
»Sagen Sie, ist Mr Eliot für
Sie ein Genie«, fuhr mein neuer Bekannter in überheblichem Tonfall fort, »oder
ein Hochstapler und Schwindler erster Güte?«
»Ich ... ich weiß nicht«,
stotterte ich. »Oder zumindest ... na ja« - etwas kühner jetzt - »also, meiner
bescheidenen Meinung nach, ist er ... der größte lebende Dichter. Englischer
Sprache, meine ich.«
»Gut. Ich stelle erfreut fest,
dass ich einem Mann von Geschmack und vornehmer Denkart gegenübersitze.«
Der Mann streckte seine Hand
aus, und ich schlug ein. Dann stellte er sich vor: Sein Name war Roger
Anstruther. Wir redeten noch ein bisschen über Eliot, streiften, wenn ich mich
recht erinnere, auch die Arbeiten von Auden und Frost, aber von dieser ersten
Unterhaltung sind nicht die Inhalte mir am lebhaftesten in Erinnerung, sondern
diese unbekannte, irgendwie elektrische Erregung, die mir in Gegenwart dieses
einzigartigen und anmaßenden Mannes durch den Körper fuhr. Sein Haar hatte
einen leicht rötlichen Ton, sein Bart war dicht, aber kurz getrimmt, und obwohl
die Schlichtheit seines Anzugs ihn deutlich als Kollegen aus dem Finanzviertel
kennzeichnete, deutete das gelbe, hellblau gepunktete Taschentuch, das ihm aus
der Brusttasche lugte, auf einen individualistischen Stil, wenn nicht gar eine
gewisse Geckenhaftigkeit hin.
Um Viertel vor zwei stand er
abrupt auf und sah auf seine Armbanduhr.
»Nun
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