Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
Vom Netzwerk:
ganze Saal (einschließlich der
Schauspieler) uns in fassungsloser Empörung anstarrte. Für mich, der ich nun
einmal geneigt war, unter allen Umständen eine Haltung der Rücksicht und
Zurückhaltung zu wahren, war das eine ausgesprochen demütigende Erfahrung.
Meine Wangen entflammten in dem Wissen um die Hunderte von Augenpaaren, die auf
uns gerichtet waren, während Roger, da bin ich sicher, diesen Moment genoss.
Nichts liebte er mehr, als im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Als wir im
Pub saßen, bekam er sich kaum mehr ein vor Lachen. »Jemand musste diesen
Idioten doch klarmachen, wer sie sind«, sagte er. »Alle anderen haben doch
dagesessen wie eine Herde hypnotisierter Schafe.« Und als er merkte, wie
durcheinander und peinlich berührt ich noch von der Episode war, rügte er mich
wegen meiner Furchtsamkeit. »Harold, dir fehlt es an Wesensstärke«, sagte er.
»Du lässt dich zu sehr von deinen Hemmungen einschüchtern; sie hindern dich
nicht nur, deine Meinung zu sagen, sie erlauben dir nicht einmal, dir selbst in
den Kopf zu schauen, damit du weißt, was drin ist. Leute wie du tun alles, um
den Status quo zu erhalten. Ich fürchte, mit dieser Einstellung bringst du es
nie zu etwas.«
    Solchen Ansichten sollte Roger
im Lauf unserer Freundschaft noch häufiger Ausdruck geben. Das nächste Mal
geschah es, nachdem ich den Fehler gemacht hatte, Roger ein paar von meinen selbst
verfassten Gedichten zu zeigen, eine Anmaßung von meiner Seite, der ein höchst
ungemütlicher Abend folgte - mein erster Abend mit Roger, nach dem ich wirklich
überzeugt davon war, dass ich ihn hasste und ihm den Tod wünschte. Wie immer
waren wir im Rising Sun, saßen schon seit einer guten halben Stunde zusammen,
und er hielt mir einen Vortrag über alte heidnische Rituale in Großbritannien
(das neueste Thema, das seinen launischen, quecksilbrigen Geist bewegte), ohne
die leiseste Anspielung auf das kostbare Manuskript gemacht zu haben, das ich
ihm zwei Tage zuvor in einem anonymen braunen DIN-A4-Umschlag überreicht hatte.
Schließlich ging die Ungeduld mit mir durch, meine Neugier wollte nicht länger
warten.
    »Hast
du sie gelesen?«, platzte es aus mir heraus.
    Er
zögerte, ließ den Gin in seinem Glas kreisen.
    »Oh ja«, sagte er schließlich.
»Oh ja, allerdings habe ich sie gelesen.«
    Die
folgende Pause schien ewig zu dauern. »Und? Was denkst du?«
    »Ich dachte ... ich dachte, es
wäre vielleicht das Beste, mich gar nicht dazu zu äußern.«
    »Verstehe«, sagte ich - und
verstand gar nichts, war dafür aber unheimlich gekränkt. »Und kritische
Anmerkungen hast du keine?«
    »Ach, Harold, was sollte das
für einen Sinn haben?« Roger seufzte schwer. »Du trägst die Poesie nicht in dir, das ist dein Problem. Keine
Poesie in deiner Seele. Die Seele eines Dichters ist etwas Schwebendes,
Luftiges. Du bist erdgebunden. Eine Kreatur der Erde.«
    Er schaute mich beinahe
freundlich an, als er das sagte, und fasste nach meiner Hand. Es war ein
besonderer Moment: unsere erste richtige körperliche Berührung, glaube ich
(nachdem wir uns schon so viele Wochen kannten!), und ein erregender Impuls
schoss mir durch den Körper, dass ich meinte, spüren zu können, wie das Blut
mir durch die Adern floss, als sei endlich ein Kreis geschlossen. Und zugleich
fühlte ich absoluten Abscheu: Meine Wut über seine Zurückweisung, über die
grobe Missachtung meiner lyrischen Versuche war so heftig, dass ich nicht
sprechen konnte und meine Hand nach ein, zwei Sekunden mit einem Ruck
zurückzog.
    »Ich hole uns noch was zu
trinken«, sagte er und stand auf. Und ich war mir sicher, ein beinahe
dämonisches Lächeln in seinen Augen zu sehen, als er noch einmal über die
Schulter zurückschaute und beiläufig fragte: »Dasselbe noch mal?«
     
    Ich war Roger hörig. Er konnte
noch so grausam zu mir sein, es gab kein Entrinnen. Ich hatte so gut wie keine
anderen Freunde in London, und außerdem war er in seiner Persönlichkeit so viel
stärker als ich, dass ich auch seine härteste Kritik an mir akzeptieren und
für wohl begründet halten musste. Wir setzten unser Programm der Zerstreuung
und Weiterentwicklung fort. Aber für eine ganze Weile nahm er meine Hand nicht
mehr in seine.
    Ein wiederkehrendes Thema bei
unseren Gesprächen war der Plan, eine lange gemeinsame Reise zu unternehmen -
zu einer noch unbestimmten Zeit - durch Deutschland und Frankreich, dann
hinunter nach Italien, um Florenz, Rom und Neapel zu sehen, die

Weitere Kostenlose Bücher