Coe, Jonathan
Tagen die Wettscheine zu
verkaufen, die - das hatten er und Roger mir versichert - dann ein Vermögen
wert sein würden. Nur schweren Herzens und mit einer nervösen Leere im Magen.
»Rufst du mich am Samstag
an?«, fragte ich. »Und teilst mir den Ausgang mit - den ich damit nicht infrage
gestellt haben will.«
»Dich anrufen? Wozu? Da bist
du doch bei mir.«
»Ich habe vor, meine Eltern zu
besuchen«, erklärte ich ihm. »Immerhin ist am Wochenende Ostern.«
»Ach, hör auf mit dem Unsinn«,
sagte er mit einer ungeduldigen Handbewegung. »Hast du in den letzten Monaten
denn gar nichts von mir gelernt? Musst du immer noch Schutz suchen bei diesen
schwachsinnigen bürgerlichen und christlichen Werten, die deine Familie dir von
frühester Kindheit an eingebläut hat? Die christlichen Feste sind doch die
reinste Heuchelei - ein blasser Abklatsch. Du kommst nächstes Wochenende mit mir,
und dann zeige ich dir, was es mit Ostern wirklich auf sich hat.«
»Mit dir? Wohin?«
»Nach Stonehenge, was denkst
du? Wir fahren Samstag spätabends los. Dann sind wir vor Morgengrauen da, wenn
die Zeremonie beginnt.«
Er fuhr fort, mir langsam, wie
einem schwachsinnigen Kind, zu erklären, dass die christliche Legende von der
Wiederauferstehung des Herrn Jesus Christus in Wirklichkeit nichts anderes sei
als die Verfälschung viel älterer und stärkerer Mythen, die mit dem Aufgehen
der Sonne nach dem Frühlingsäquinoktium im Zusammenhang stehen. Selbst das
Wort >Easter< und sein deutsches Äquivalent >Ostern< haben
denselben Ursprung: >eostre< oder >östarun<, die angelsächsische
beziehungsweise germanische Bezeichnung für die Jahreszeit der aufgehenden
Sonne, die Jahreszeit des neuen Lebens. Und so versammelten sich am Sonntag zum
Sonnenaufgang Hunderte von heidnischen Anbetern im großen Steinkreis vor den
Toren Salisburys, um dem Sonnengott zu huldigen.
»Und verlass dich drauf, mein
lieber Harold, du und ich werden dabei sein. Komm am Samstagabend zu mir - ich
mach uns ein kleines Abendessen, und gegen zwei holen uns ein paar Freunde mit
dem Auto ab. Dann bleibt uns mehr als genug Zeit.«
»Freunde?«, fragte ich. »Was
für Freunde?«
»Ach, ein paar Leute, die ich
kenne«, sagte er geheimnisvoll. Roger hielt die verschiedenen Bereiche seines
Lebens gerne streng getrennt, und wenn er mich einigen seiner heidnischen
Gefährten vorstellen wollte, dann hatte ich das gefälligst als außerordentliches
Privileg zu verstehen.
»Vergiss nicht«, sagte er,
bevor wir uns trennten, »der Sonnengott ist der männliche Gott. Und dem werden
wir dort huldigen - dem Geist des Mannes, dem Wesen der Männlichkeit.« Und mit
herausforderndem Funkeln in den Augen fügte er hinzu: »Ich würde es dir sehr
verübeln, wenn du nicht mitkommst.«
Ich versprach ihm, darüber
nachzudenken, und verließ ihn in einem Zustand echter Unentschlossenheit.
Jetzt, da ich das alles mit
einem Abstand von fast dreißig Jahren niederschreibe, kann ich nicht mehr
verstehen, wie ich Roger Anstruther und seiner arroganten Dominanz so verfallen
konnte. Aber wer immer diese Seiten liest, sollte nicht vergessen, dass ich ein
unreifer, seiner selbst nicht sicherer junger Mann in einer fremden Stadt war
und glaubte, in Roger jemanden kennengelernt zu haben, der - wie soll ich es
ausdrücken? -, der einen Aspekt meiner Persönlichkeit bestätigte. Etwas, das
ich immer vermutet, in den entlegensten Tiefen meines Seins sogar gewusst
hatte, ohne den Mut zu finden (aus Feigheit, hätte er gesagt), es mir
einzugestehen. Trotzdem war ich, in diesem zarten Alter, begierig, die Rätsel
meines Lebens zu entwirren. Zuerst hatte ich geglaubt, in der Lyrik die
Antworten zu finden, aber jetzt eröffnete Roger mir eine andere, noch
verlockendere Welt - eine Welt der Schatten, Omen, Symbole, Rätsel und
seltsamen Fügungen. Was war das, zum Beispiel, für eine Fügung, dass all unsere
Pläne am Vorabend des Festes der aufgehenden Sonne in Erfüllung gehen sollten
und genau das - The Rising Sun - auch noch der Name des Pubs war, in dem wir
unsere ersten und bedeutendsten Gespräche geführt hatten. Solche Fragen nagten
an meinem jugendlichen, beeinflussbaren Geist und gaben mir das Gefühl,
womöglich an der Schwelle einer Offenbarung, eines folgenschweren Durchbruchs
zu stehen, der all meine Probleme lösen und mich von den Fesseln befreien
könnte, die mich bis dahin behindert hatten.
Aus diesen Gründen - Gründen,
die einem verständnislosen Leser fadenscheinig,
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