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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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dem Straßenverlauf.
    »Ich glaube, wir sind gerade
an einem Hirsch vorbeigefahren. Hast du gesehen, Emma? Da drüben im Wald?« Wir müssen über Chris reden.
    »Ja, du hast recht. Wir müssen
über Chris reden. Wir müssen über viele Dinge reden, und Chris ist eins davon.
Aber bevor wir das tun, fahre ich auf den Parkplatz da vorne, trinke noch einen
Schluck Whisky und mache ein kleines Nickerchen, wenn's dir recht ist. Ich bin
nämlich auf einmal wahnsinnig müde, Emma. Todmüde. Nicht, dass wir noch einen
Unfall bauen. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn dir etwas zustößt.«
     
    Wir müssen über Chris reden. »Hmmm?«
    Ich habe gesagt, wir müssen über Chris reden. »Scheiße. Wie spät ist es?
Drei Uhr! Verfluchter Mist. Wo kommt der viele Schnee auf einmal her? Und der
Whisky, wo ist der geblieben? Sag bloß, den hab ich ausgetrunken. Ich muss die
andere Flasche aufmachen ... O Gott, mein Kopf ...
    Also. Weiter geht's. Schlechte Sicht heute Nachmittag.
Und stockdunkel. Als wäre schon tiefste Nacht. Folgen Sie dem Straßenverlauf. »Okay.
Mach ich. So, worüber wolltest du reden?« Über Chris.
    »Okay. Können wir machen. Gibt
es da etwas Besonderes, über das du mit mir reden willst? Ja. Das Foto.
    »Das Foto? Da müsstest du
schon konkreter werden. Ich verstehe nicht.«
    Folgen Sie dem Straßenverlauf. »Welches Foto meinst du?« Das mit dem Knick.
    »Ach, das von Alison meinst
du? Im Bikini?«
    Warum hat er es umgeknickt?
    »Bitte?«
    Warum dein Vater das Foto umgeknickt hat.
    Ich dachte, das hätten wir
geklärt. Weil er sich an dem Foto von Alison aufgeilen wollte und ihn nur die
Hälfte interessiert hat.«
    Bist du da so sicher?
    »Natürlich bin ich sicher. Was
sollte es sonst für eine Erklärung geben?«
    Nach anderthalb Kilometern rechts abbiegen.
    »Komm, Emma, worauf willst du
hinaus?«
    Nach achthundert Metern rechts abbiegen.
    »Nein, dann kommen wir auf die
Straße zurück nach Aberdeen, und ich habe dir gesagt, dass ich da nicht hin
will. Weder heute noch irgendwann.«
    Du weißt es.
    »Ich weiß es? Was weiß ich?
Geht's auch etwas weniger geheimnisvoll?«
    Du weißt, warum dein Vater das Foto umgeknickt hat.
    »Können wir bitte das Thema
wechseln?«
    Jetzt gleich rechts abbiegen.
    »Links abbiegen, wolltest du
sagen.«
    Du weißt es.
    »Kannst du vielleicht mal die
KLAPPE HALTEN, Emma! Kein Wort mehr über das Thema.«
    Sag es, Max. Sag es. »Leck mich am Arsch!«
    Nicht weinen, Max. Du musst
nicht weinen. Sag einfach die Wahrheit.
    »Ich weine nicht.« Du kannst es sagen.
    »Warum MACHST du das mit mir?
Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?«
    War es wirklich das Bild von
Alison, das ihn angemacht hat?
    »Natürlich nicht. O Gott. O
Dad! Du elender ... du erbärmlicher Mann. Wie konnte ich so blind sein? Wieso
waren wir alle so blind? Es war Chris, stimmt's? Du warst scharf auf Chris. Die
ganzen Jahre. Auf den Sohn deines besten Freundes. Konntest deinen Blick nicht
von ihm wenden. Selbst heute noch - selbst heute spukt er dir noch im Kopf
herum. Ständig hast du dich nach ihm erkundigt, neulich in Sydney. Und
wahrscheinlich war es nicht nur Chris. Wahrscheinlich auch noch andere Leute.
Freunde von mir? Von Mum? Wer weiß? Du hast es in dich hineingefressen, Dad.
Die ganze Zeit, jahrelang. Und das tust du heute noch. Dein jämmerliches kleines
Geheimnis. Das du nie eingestehen konntest, weder Mum noch sonst wem.«
    In zweihundert Metern bitte
wenden.
    »Ach, wie traurig das ist. Wie
abgrundtief traurig.«
    Jetzt bitte wenden. Dann für
circa viereinhalb Kilometer dem Straßenverlauf folgen.
     
    Videotagebuch,
vierter Tag.
    »Hallo, ihr wollt doch sicher
wissen, wie es mir ergangen ist.
    Ich freue mich, euch mitteilen
zu können, dass ich auf dem Weg zu den Shetlandinseln bin. Alles ist bestens.
Natürlich ist es draußen ein bisschen zu dunkel, deshalb könnt ihr nicht
erkennen, wo ich mich zurzeit genau befinde, aber ich vermute mal ... irgendwo
vor der Westküste Afrikas, vermute ich.
    Gestern haben wir jedenfalls
Madeira steuerbord liegenlassen, und wenn ich heute den Blick nach backbord
wende, sehe ich eine Masse aus Erde und Felsen aufragen, die ich für eine der
Kanarischen Inseln halte. Aber es könnten genauso gut die Cairngorms sein, denn
wenn ich nicht völlig falsch liege, befinden wir uns gerade auf der B976 und
entfernen uns in westlicher Richtung von Aberdeen, hinauf in die Berge. Ich
will das mal eben mit meiner treuen Navigatorin abchecken.«
    In circa

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