Coe, Jonathan
Gibt
es noch irgendetwas, das du mir in der verbleibenden Zeit erzählen willst?
»Was? Was meinst du?«
Ob du mir noch irgendetwas
erzählen willst, bevor ich gehen muss?
»Ich verstehe nicht.«
Ich glaube, da gibt es noch
etwas, das du mir erzählen solltest. Dein kleines Geheimnis. Etwas, das du
Caroline nie verraten hast. Es hat etwas mit Chris zu tun.
»Mit Chris?«
Ja. Jetzt weißt du, von was
ich rede, oder?
»Du meinst ...«
Ja?
»Du meinst, was in Irland
passiert ist? Die Brennnesselgrube?«
Genau das. Komm, Max. Es geht
dir besser, wenn du es jemandem erzählst.
»O Gott ... o Gott ... Woher
weißt du das?«
Sprich es einfach laut aus.
Erzähl mir, was dem armen kleinen Joe passiert ist. Was du ihm angetan hast.
»Scheiße ... Scheiße ...
SCHEISSE.«
Das ist okay. Weine nur, wenn
du willst. Lass es heraus.
»Du willst die Wahrheit?«
Natürlich will ich die
Wahrheit. Die Wahrheit ist immer schön.
»Aber die Wahrheit ist, Emma
... Die Wahrheit ist ... Ach Gott. Die Wahrheit ist, dass ich ihn gehasst habe.
Ist das nicht furchtbar, so etwas zu sagen? Ein kleiner Junge. Einfach nur ein
neugieriger, lebhafter kleiner Junge. Den ich dafür gehasst habe, dass er so
glücklich war. Dass er einen Vater wie Chris hatte. Dass er zwei Schwestern
hatte, mit denen er spielen konnte. Für alles, was er hatte, und was ich nicht
hatte ... habe ich ihn gehasst. Für all die Dinge, die ich von meinem Dad nie
bekommen habe ...«
Weine nur, wenn es dir gut
tut.
»Ich hab es mir nie
klargemacht, verstehst du. Ich hab mir nie klargemacht, wie viel Hass ich in
mir trug. Ich hab mir nie klargemacht, dass ich ein Kind so sehr hassen konnte.«
Lass den Tränen freien Lauf,
Max. Es wird dir gut tun. Also, was ist passiert? Was hast du gemacht?
»Ich kann es nicht
aussprechen.«
Doch, du kannst. Du kannst es
aussprechen, Max. Ich weiß, was passiert ist. Du hast ihn gestoßen. »Ich ...«
Ist es nicht so gewesen? Du
hast ihn wieder reingestoßen. Hast du ihn gestoßen, Max?
»Ja. Ja, das habe ich getan.
Ich habe ihn gestoßen. Und er hat es gewusst. Er hat gewusst, dass ich es war.
Er hat es seinem Vater erzählt. Chris wollte es zuerst nicht glauben, aber dann
hat er es doch geglaubt. Deshalb sind sie abgereist. Und seitdem hat Chris
nicht mehr mit mir geredet.«
Weine nur, wenn du willst.
Aber es tut gut, mit jemandem darüber zu reden.
»Ich konnte nicht anders. Ich
wollte ihm wehtun. Ich wollte ihm mit aller Gewalt wehtun. Ich hätte es nie für
möglich gehalten, dass ich jemals den Wunsch haben könnte, jemandem so wehtun
zu wollen. Und dabei war er erst acht. Acht Jahre. SCHEISSE. Ich bin ein
schlechter Mensch. Ein durch und durch schlechter Mensch. Warum habe ich es dir
bloß erzählt? Hasst du mich jetzt, Emma? Wirst du mir verzeihen können? Mich je
wieder mögen können?«
Ich bin die einzige Person,
der du es erzählen konntest, Max. Weil ich niemanden verurteile - erinnerst du
dich? Ich bin froh, dass du es mir erzählt hast. Es war richtig, dass du es mir
erzählt hast. Irgendwann musstest du es jemandem erzählen. Aber die Batterie
ist fast leer. Ich muss dir jetzt Lebewohl sagen. Ich muss dich verlassen,
Max.
»Emma, du darfst nicht gehen.«
Ich muss. Ich überlasse dich
der Gnade der Elemente. Schnee wird auf dich fallen. Die Dunkelheit wird dich
bedecken. Die Elemente haben dich so klein gemacht. Jetzt wachen sie über dich.
»Und sonst hast du mir nichts
zu sagen? Ich habe nämlich etwas, das ich dir sagen will. Etwas, das ich dir
schon seit Ewigkeiten sagen wollte.«
Also gut. Jeder noch eins. Du
darfst anfangen.
»Okay. Also. Ich liebe dich.
Ganz im Ernst, Emma. Seit Tagen will ich es dir sagen, aber ich habe mich nicht
getraut. Ich habe den Mut nicht gefunden. Aber jetzt ist es heraus. Ich liebe
dich. Schon immer. Seit ich zum ersten Mal deine Stimme gehört habe.«
Dann lebe wohl, Max.
Aber ... du wolltest mir auch noch etwas sagen? In dreihundert Metern bitte
wenden. »Emma
... Bitte geh nicht.
Lass mich nicht allein. Lass mich hier nicht allein!
Bitte!!
Emma? Emma?«
FAIRLIGHT BEACH
21
Als ich die Chinesin und ihre
Tochter an ihrem Tisch im Restaurant Karten spielen sah, hinter ihnen die
Lichter des Hafens von Sydney, die im Wasser glitzerten, wusste ich, dass es
jetzt nicht mehr lange dauern würde, gar nicht mehr lange, bis ich gefunden
hätte, wonach ich gesucht hatte.
Es war der 11. April 2009: der
zweite Samstag des Monats.
Ich war um sieben in
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