Coe, Jonathan
London
zurückzufliegen, ohne irgendeinen Versuch der Kontaktaufnahme zu ihr gemacht
zu haben.
»Gut«, sagte ich mit einem
Seufzen, »dann muss ich es wohl so machen.«
»Keine Sorge, Max - es wird
alles gut.«
Ich schaute ihn verblüfft an.
Diese Woche hatte ich zweifellos ein paar neue Seiten an meinem Vater
kennengelernt. Diese Art von Aufmunterung war eigentlich nicht seine Art.
»Du scheinst mir sehr ...
ruhig zu sein, wenn ich bedenke, was dir heute widerfahren ist«, sagte ich.
»Tja, was soll man machen?«,
sagte er. »Manche Dinge, Max ... manche Dinge sollen wohl einfach nicht sein.
Es ist jetzt vierzig Jahre her, seit ich Roger zuletzt gesehen habe. Und die
Ereignisse, über die ich in meiner Erinnerung geschrieben habe, liegen
fünfzig Jahre zurück. Und ich habe diese lange Zeit ohne ihn überlebt.
Natürlich war ich enttäuscht, dass wir uns heute wieder verpasst haben. Es war
ein schreckliches Gefühl sich wiederholender Geschichte, wie du dir vorstellen
kannst. Aber dann ... na ja, ich bin zum Teehaus zurückgegangen - zu dem, in
dem ich zuerst gewesen war, unten beim Zierteich. Und dort hab ich mich eine
Weile hingesetzt, ein Bier getrunken und mir gedacht - wenn er kommt, kommt er,
wenn nicht, dann eben nicht. Und er ist nicht gekommen. Es war ein schöner Nachmittag.
In Melbourne ist es viel wärmer als hier. Ich hab dagesessen und mein Bier
getrunken und auf die vielen exotischen Vogelstimmen gelauscht und mir die
Palmen und Dattelbäume angeschaut ... Ich hatte jede Menge Unterhaltung. Sie
haben dort eine herrliche Sumpfzypresse, gleich neben dem Zierteich. Eine
mexikanische Sumpfzypresse. Ich habe ein Gedicht über sie geschrieben. Taxodiaceae hab ich es genannt. Hier -
hier steht es.«
Er reichte mir sein schwarzes
in Baumwolle gebundenes Notizbuch, und ich machte einen Versuch, das kleine
achtzeilige Gedicht zu lesen, das er am Nachmittag hineingeschrieben hatte. Es
war schon schwer genug, seine Handschrift zu entziffern, aber auch aus dem
Gedicht selbst wurde ich natürlich mal wieder nicht schlau.
»Sehr schön«, sagte ich, gab
ihm das Buch zurück und dachte fieberhaft über einen ausführlicheren Kommentar
nach. »Du solltest deine Gedichte veröffentlichen.«
»Ach, ich bin ein blutiger
Amateur, das weiß ich doch.«
»Hat Roger irgendwelche
Nachrichten auf deinem Handy hinterlassen?«, fragte ich, immer noch in der
Hoffnung, wenigstens etwas aus dem heutigen Totalschaden bergen zu können.
»Weiß ich nicht«, sagte mein
Vater. »Ich weiß nicht, wie man Nachrichten abhört, und wenn er tatsächlich
welche draufgesprochen hat, will ich sie gar nicht hören.«
»Wirklich nicht?«, fragte ich.
»Nach all den Jahren bist du nicht mal ... neugierig?«
»Max«, sagte mein Vater,
beugte sich vor und legte seine Hand auf meine. Noch so eine unerwartete Geste.
»Du hast heute etwas ganz Erstaunliches für mich getan. Das vergesse ich dir
nie. Nicht, weil ich Roger unbedingt wiedersehen wollte, sondern weil ich jetzt
weiß, dass du mich akzeptierst. Mich akzeptierst als der, der ich bin.«
»Besser spät als nie«, sagte
ich mit einem leisen, bedauernden Lachen.
»Wie findest du eigentlich
meine Wohnung?«, fragte mein Vater nach einer kurzen Pause (während der er
seine Hand von meiner zurückgezogen hatte).
»Na ja, die ist ... ganz okay,
eigentlich. Man müsste vielleicht einiges tun, um sie wohnlicher zu machen.«
»Ach, sie ist doch scheußlich.
Ich werde sie kündigen.«
»Und wo willst du hinziehen?«
»Ich glaube, es ist an der
Zeit, nach Hause zu kommen. Die Wohnung in Lichfield verkommt immer mehr. Es
wäre vielleicht gar nicht mal so unvernünftig, dort wieder einzuziehen. Und
wenn du dir dann mal wieder Sorgen um mich machst, ist es vielleicht einfacher,
drei Stunden auf der Autobahn statt vierundzwanzig Stunden im Flieger unterwegs
zu sein.«
Ja, der Meinung war ich auch:
Es wäre viel vernünftiger, wenn er in Lichfield statt in Sydney leben würde.
Und so redeten wir für den Rest des Abends von nichts anderem mehr: nicht von
Roger Anstruther, nicht von der Chinesin und ihrer Tochter. Stattdessen
erzählte ich meinem Vater von Miss Erith und dass sie ihn einen alten Halunken
gescholten hatte, weil er einfach so gegangen war, ohne ihr zu sagen, wann er
zurückkommen würde, und auf welch gutem Fuß sie mit ihrem Dr. Hameed stand, und
wie sie dagegen gewettert hatte, dass England sich von den großen Konzernen in
die Pfanne hauen lässt. Er war auch der Meinung,
Weitere Kostenlose Bücher