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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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dass es nett wäre, die alte
Dame wiederzusehen. Und irgendwie, ich weiß nicht, warum, wahrscheinlich weil
ich erwähnt hatte, sein erster Umzug nach Lichfield könnte eine Reaktion auf
Mutters Tod gewesen sein, kamen wir auf meine Mutter zu sprechen. Nach all den
Jahren sprachen wir über meine Mutter! Ich glaube nicht, dass vor diesem Abend
und seit ihrem Begräbnis einer von uns je ihren Namen erwähnt hatte. Und jetzt
füllten sich die Augen meines Vaters zum ersten Mal mit Tränen, echten Tränen,
und er begann über die Jahre ihrer Ehe zu erzählen und was für ein erbärmlicher
Ehemann er ihr gewesen war, was für ein miserables Leben er ihr geboten hatte,
was für aussichtslose Karten ihr vom lieben Gott oder vom Schicksal oder wem
auch immer in die Hand gegeben worden waren, dass sie mit sechsundvierzig
sterben musste, nachdem sie kaum etwas anderes hatte kennenlernen dürfen als
das freudlose Leben an der Seite eines Ehemanns, den der Selbsthass verzehrte -
eines Mannes, der nicht die leiseste Ahnung hatte, wie er sich ihr oder seinem
Sohn gegenüber verhalten sollte, der nichts anderes kannte als das
Unterdrücken, das In-sich-Hineinfressen seiner unerfüllten Gefühle und Wünsche
...
    Mein Vater fasste sich wieder,
als er gewahr wurde, dass der Kellner vor uns stand.
    »Meine Herren«, sagte der
Kellner, »in ein paar Minuten schließen wir.«
    »In Ordnung«, sagte ich.
    »Und bis dahin ... dürfen es
vielleicht noch zwei Amaretti sein?«
    Als er uns die Drinks brachte,
stießen mein Vater und ich auf meine Mutter an.
    »Sie hat mir alles bedeutet«,
sagte ich. »Aber ich hab es ihr nicht ein einziges Mal gesagt, weißt du? Ich
hätte es ihr sagen müssen. Ich hoffe, das sie gewusst hat, irgendwie, wie viel
sie mir bedeutete.«
    Ich sah meinen Vater an, wartete,
ob er auch noch etwas dazu sagen wollte. Hatte er sie geliebt? Sicherlich, auf
seine Weise, sonst wäre er nicht bei ihr geblieben. Aber er sagte nichts: Er
lächelte mich nur traurig an.
    Der Kellner begann, die Stühle
um uns herum zu stapeln. Wir waren beide müde und hatten die nötige
Bettschwere.
    »Gut, richten wir den Blick in
die Zukunft. Wir sollten etwas an Mutters Grabstein tun. Außer >Barbara Sim,
1939-1985< steht nichts drauf. Da müssen wir uns noch etwas einfallen
lassen.«
    »Du hast recht«, sagte mein
Vater. »Das machen wir als Erstes.«
    Ich hatte einen Augenblick der
Inspiration. »Ich weiß - wie wäre es mit den Zeilen aus den Vier Quartetten? Die schönen Zeilen mit der
vergangenen Zeit, die in der jetzigen Zeit enthalten ist.«
    Mein Vater dachte darüber
nach. »Nicht schlecht. Gar nicht mal schlecht.«
    Aber ich merkte ihm an, dass er nicht überzeugt war.
»Hast du eine bessere Idee?«
    »Eigentlich nicht. Aber
Gedichte hat deine Mutter nun mal gar nicht gemocht. Es würde sie nicht freuen,
etwas von Eliot auf dem Grabstein stehen zu haben.«
    »Na gut. Und was hat sie
gemocht?«
    »Ach, ich weiß nicht. Sie hat
Tommy Steele gemocht. Cliff Richard ...«
    »Okay, nehmen wir eben Cliff.
Ein paar Zeilen aus einem seiner Lieder.«
    »>Living Doll< ...«,
sinnierte mein Vater und schüttelte den Kopf. »Nicht sehr geeignet für einen
Grabstein.«
    »Und was wäre mit >Devil
Woman    »>Congratulations?< Wohl
auch nicht.«
    »>We're all
going on a summer holiday    «Nein, das eignet sich alles
nicht als Epitaph. Nichts davon.«
    Unsere Blicke begegneten sich,
und wir brachen in lautes Gelächter aus. Dann ließen wir wieder den Amaretto in
unseren Gläsern kreisen, bevor wir sie bis auf den letzten Tropfen leerten.
     
    22
     
    Donald Crowhurst begann über
das unlösbare Rätsel der Quadratwurzel aus minus eins nachzudenken, und bald
darauf steckte er in einem »dunklen Tunnel«, aus dem er nie wieder hervorkommen
sollte. Zum Glück ergeht es den meisten von uns besser. Zwar schaffen es nur
wenige Menschen, überhaupt nie in diesen Tunnel zu geraten, aber wir anderen
finden in der Regel den Ausgang auf der anderen Seite. Und der Tunnel, in dem
ich gelandet war ... na ja, der stellte sich letztlich als länger und dunkler
heraus, als ich mir je hatte vorstellen können. Mir ist jetzt klar, dass ich
fast mein ganzes bisheriges Leben lang in ihm gesteckt habe. Aber das
Wichtigste ist, dass ich ihm am Ende entkommen bin, und als ich endlich wieder
hinaus ins Sonnenlicht trat, blinzelnd, mir die Augen reibend, fand ich mich in
Sydney wieder, an einem Ort, der Fairlight Beach hieß.
    Ich traf morgens um neun

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