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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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an Politik. Warum ist das
wohl so? Drei Mal darfst du raten. Richtig - weil ihr uns so erzogen habt! Für
euch sind wir Mrs Thatchers Kinder, meinetwegen, aber ihr wart es, die sie gewählt habt,
immer wieder, und später habt ihr alle Leute gewählt, die nach ihr kamen und
genau das Gleiche gemacht haben wie sie. Ihr habt uns zu konsumistischen
Zombies erzogen. Ihr habt alle anderen Werte aus dem Fenster geworfen, oder
etwa nicht? Christlichkeit? Braucht man doch nicht. Verantwortung für die
Gemeinschaft? Wie weit ist man damit gekommen? Handwerk? Dinge selbst
herstellen? Eine Aufgabe für Verlierer. Ja, genau: Sollen doch die Verlierer in
Fernost das für uns erledigen, dann können wir uns auf unseren Hintern setzen,
in die Glotze gucken und die Welt zugrunde gehen sehen - natürlich in 16:9 und
HD.« Sie lehnte sich zurück. Fast schien ihr die Wut ein bisschen peinlich zu
sein, in die sie sich hineingesteigert hatte. »Ja, das hab ich zu Clive gesagt,
als er mir diesen Job ausreden wollte.«
    Nun gut, das war ja alles sehr
interessant, Poppy hatte eine Menge Themen angesprochen, mir viel Stoff zum
Nachdenken gegeben. Sie hatte sogar so viele Themen angesprochen, dass ich gar
nicht wusste, wo ich anfangen sollte.
    »Wer ist Clive?«, fragte ich.
    »Clive? Clive ist mein Onkel.
Der Bruder meiner Mutter.«
    Ich atmete erleichtert auf und
sagte: »Da bin ich aber froh.« Es war heraus, bevor ich mir auf die Zunge
beißen konnte.
    »Froh?«, fragte Poppy
verwirrt. »Worüber sind Sie froh? Dass meine Mutter einen Bruder hat?«
    »Ähm ... ja«, stotterte ich.
»Ich meine, es ist nicht gut, wenn man ein Einzelkind ist. Ich bin ein
Einzelkind, eine Erfahrung, die ich nicht weiterempfehlen ...« Es war
lächerlich. Ich musste so schnell wie möglich das Thema wechseln. »Eigentlich
klar, dass die Tarife Ihrer Agentur gesalzen sind«, sagte ich, »schließlich
müssen sie Ihnen die weiten Flüge bezahlen, jede Woche in eine andere Ecke der
Welt.«
    »Die sind teuer«, sagte Poppy.
»Aber das ist nicht der Grund. So viel kostet es auch wieder nicht, hierher und
wieder zurück zu fliegen. Ich fliege Standby. Das macht es etwas unvorhersehbar,
weil man nie weiß, ob man einen Platz ergattert - manchmal muss man eine Nacht
im Terminal verbringen, was nicht so toll ist -, aber meistens kriege ich was.«
    »Und diesmal haben Sie Glück
gehabt?«
    »Ja, aber es war ganz schön
knapp. Ich wollte auf den BA-Flug ...«
    »7371?«, fragte ich
hoffnungsvoll.
    »Genau. Ist das Ihr Flieger?«
    »Ja. Haben Sie etwas
bekommen?«
    »Zuerst sah es nicht gut aus.
Voll ausgebucht, hat man mir gesagt. Und dann war plötzlich doch ein Platz
frei, keine Ahnung, warum.«
    Eine wunderbare Gewissheit
nahm Besitz von mir.
    »Hat man Sie in die Premium
Economy gebucht?«
    »Richtig. Warum?«
    »Ich glaube, Sie sitzen neben
mir.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Sollte ich die Umstände von
Charlie Haywards jähem Ableben vor ihr ausbreiten? Dann hätte ich ihr auch
verraten müssen, dass sie auf den Platz eines Toten gebucht worden war. Auch
wenn sie keinen sehr zimperlichen Eindruck auf mich machte, wollte ich lieber
kein Risiko eingehen - nichts sollte einen Schatten auf die Reise werfen, die
wir vor uns hatten, Seite an Seite. Aus dem Nichts war diese junge Frau mir in
den Schoß gefallen, und jetzt schien das Schicksal unsere Verbindung noch
weiter festigen zu wollen. Man durfte mit Fug und Recht behaupten, dass wir im
Lauf der nächsten zwölf Stunden Seite an Seite schlafen würden. Und das bei
unserem ersten Rendezvous!
     
    4
     
    Für die zweite und letzte
Etappe des Langstreckenflugs war Charlie der Platz am Gang zugedacht gewesen,
und mir der am Fenster. Poppy sagte, es sei ihr egal, wo sie sitze, aber ich
glaubte es ihr nicht. Jeder Mensch zieht einen Platz am Fenster vor, oder? Ich
bestand also darauf, ihr den Fensterplatz zu überlassen. Ich war entschlossen,
ihr die Reise so angenehm wie möglich zu gestalten. Ich war entschlossen, den
allerbesten Eindruck auf sie zu machen. Ich wollte sie dazu bringen, mich zu
mögen.
    »Übrigens leide ich unter
einer depressiven Störung«, sagte ich, kaum dass wir uns niedergelassen hatten.
    Zu meiner Erleichterung schien
Poppy davon völlig unbeeindruckt zu sein. Sie sah mich ein paar Sekunden lang
an und sagte: »Ja - ich hab mir schon so was gedacht.«
    »Wirklich?«, fragte ich. »Ist
es so offensichtlich?«
    »Na ja, sagen wir ... ich habe
ein Näschen für solche Dinge.«
    Wenigstens war es

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