Coe, Jonathan
Lucy mitgenommen. Ich
glaube, es war lange vorher absehbar gewesen, aber trotzdem - der Schock, die
schreckliche Gewissheit, dass meine größte Befürchtung, das, wovor ich auf der
Welt am meisten Angst hatte, tatsächlich Wirklichkeit geworden war ... Na ja,
und es dauerte nicht lange, und ich lag flach. Ein, zwei Wochen schleppte ich
mich noch weiter, dann wachte ich eines Morgens auf, wollte aufstehen und zur
Arbeit gehen, aber ich konnte mich nicht mehr bewegen: wie in dem Horrorfilm,
den ich als kleiner Junge gesehen hatte, in dem ein Mann in einem Raum gefangen
war, dessen Decke sich erbarmungslos auf ihn herabsenkte. Ich blieb den ganzen
Tag im Bett liegen, und wenn ich mich recht erinnere, erhob ich mich erst gegen
sieben Uhr abends, als ich unbedingt etwas essen und einem Bedürfnis nachkommen
musste. Den Rest der Woche verbrachte ich weitestgehend zu Hause, meist im
Bett, manchmal vor dem Fernseher, und schleppte mich erst am Freitagnachmittag
wieder zur Arbeit, wo meine Vorgesetzte mich in ihr Büro rief. Sie fragte mich,
was mit mir los sei, und schickte mich auf direktem Weg zu meinem ersten
Treffen mit Helen, der Arbeitsschutz-Beauftragten unseres Betriebs. Kurz
darauf konsultierte ich meinen Hausarzt, und als es Herbst wurde, schluckte ich
alle möglichen Pillen, von denen keine einzige Wirkung zeigte. Ich fand alles
sinnlos, sah keinen Weg nach vorne mehr. Dieser Zustand war zweifellos durch
den Weggang von Caroline und Lucy ausgelöst worden, aber schon bald war ein
Stadium erreicht, in dem mich alles deprimierte. Absolut alles. Die Welt schien
am Rande des ökonomischen Kollaps zu stehen, die Zeitungen waren voll mit
apokalyptischen Schlagzeilen, die den großen Bankencrash, den Verlust all
unserer Ersparnisse und das Ende der westlichen Zivilisation, wie wir sie
kannten, an die Wand malten. Ich hatte keine Ahnung, ob das stimmte oder was
ich dagegen hätte tun sollen. Wie alle meine Bekannten zahlte ich eine Hypothek
ab, hatte einen Berg Schulden auf dem Kreditkartenkonto und keinerlei
Ersparnisse. War das gut oder nicht gut? Niemand konnte mir darauf eine Antwort
geben. Also schaute ich jeden Tag die Nachrichten, verstand nicht viel außer
der Tatsache, dass sie eine allgemeine Stimmung der Mutlosigkeit und
Verzweiflung schürten, und wurde immer mehr zum Opfer frei flottierender
Ängste, die nur allzu gut zu meiner generellen Lähmung passten. Die Option,
wieder zur Arbeit zu gehen, rückte in immer weitere Ferne. Helen, die
Arbeitsschutz-Beauftragte, schickte mich zum Psychiater, der sich ein paar
Stunden lang mit mir unterhielt und dann eine Diagnose aus dem Ärmel zog:
Depression. Ich dankte ihm für seine Einschätzung, er schickte dem Kaufhaus
seine Rechnung, und ich ging wieder nach Hause. Wochen vergingen, dann Monate.
Ich machte keinerlei Anstalten, da wieder herauszukommen, bis ich eines Tages
meine E-Mails abrief und die Mitteilung von Expedia fand, die mich darauf
aufmerksam machte, dass es nur noch wenige Wochen bis zu meinem Abflug nach
Sydney waren. Wie bereits berichtet, hatte Caroline den Flug kurz vor ihrem
Auszug für mich gebucht. In meinem gegenwärtigen Zustand hatte die Aussicht auf
eine Reise nach Australien wenig Verlockendes, aber Helen war davon überzeugt,
dass sie mir gut tun würde, und ermutigte mich, sie zu machen. Also flog ich
nach Sydney, besuchte meinen Vater, und alles andere ist bekannt. Zumindest
das, was ich nicht verschwiegen habe.
Mein Gespräch mit Helen
dauerte zwanzig Minuten.
Sie erinnerte mich daran, dass
ich mich dem Ende der sechs Monate bezahlten Urlaubs näherte, die mir aus
medizinischen Gründen gewährt worden waren; außerdem wollte sie sich nach
meinen Absichten erkundigen und ob ich bereit sei, wieder zur Arbeit zu kommen.
Ich teilte ihr mit, dass ich nicht wieder zur Arbeit kommen wollte. Von dem
neuen Leben als Zahnbürstenvertreter, das ich mir verordnet hatte, erzählte
ich ihr nichts. Irgendwie erschien es mir vernünftiger, das für mich zu
behalten. Helen schien ehrlich verärgert darüber zu sein, dass ich nicht in das
Kaufhaus zurückkehren wollte. Sie versicherte mir, dass meine
Abteilungsleiterin ihr in einer innerbetrieblichen Mitteilung anvertraut
hatte, dass ich hier allgemein als äußerst fähiger Beauftragter für die
Nachkaufbetreuung angesehen wurde und mein Ausscheiden ein großer Verlust für
das Kaufhaus wäre. Ich antwortete, dass mein Entschluss endgültig sei. Wir
gaben uns die Hand. Sie versprach, die
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