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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Donnerstag und
bei unserem anschließenden Gespräch ist, so glaube ich, deutlich geworden, dass
du ein spezielles Interesse am Thema der Intimsphärenverletzung hast und dem
Einfluss, den eine solche Erfahrung auf die Beziehungen der beteiligten
Personen haben kann. Da in diesem Semester jeder von euch vor die Aufgabe
gestellt werden wird, einen »selbstreflexiven« Aufsatz zu schreiben, der auf
einen Aspekt der eigenen Erfahrung zurückgreift, habe ich mir gedacht, dass es
vielleicht das Thema sein könnte, über das du gerne schreiben möchtest.
Vielleicht gibt es ja ein Ereignis in deinem Leben, das dir als Aufhänger
dienen könnte.
    Du kannst versichert sein,
dass diese selbstreflexiven Aufsätze KEINER Benotung unterliegen und von den
Tutoren nur dann eingesehen werden, wenn es der ausgesprochene Wunsch des
Verfassers ist. Wir vertrauen euch dahingehend, dass ihr euch für die Aufsätze
die Zeit nehmt, die ihr braucht. Ihr Wert soll sich allein in der Erfahrung
bemessen, die ihr beim Schreiben macht, und der Gelegenheit, eure
Selbstwahrnehmung zu schärfen.
    Natürlich ist es dir
überlassen, worüber du schreibst. Bitte betrachte diese Zeilen lediglich als
einen Vorschlag.
     
    Mit den besten Grüßen,
Nicholas
     
    Nachdem ich das gelesen hatte,
warf ich einen Blick auf den Anfang des Aufsatzes. Der erste Absatz lieferte
ein paar einführende Gedanken, aber schon der zweite begann mit dem Satz: »Es
war im langen, heißen Sommer 1976«, und ein paar Sätze später hieß es: »Ende
August dieses Jahres fuhren wir mit unseren Freunden, der Familie Sim, auf
einen einwöchigen Campingurlaub in den Lake District.«
    Den Lake District? Sie hatte
einen Aufsatz über unseren Urlaub in Coniston geschrieben? Was war in der Woche
passiert, das mit einer »Verletzung der Intimsphäre« zu tun hatte?
    Mit zitternden Fingern
blätterte ich die restlichen Seiten durch. Ich hatte das Gefühl, kurz vor einer
Panikattacke zu stehen. Ich musste die fehlenden Seiten finden und den ganzen
Aufsatz durchlesen, so schmerzhaft es werden mochte. Wie bei Carolines
Erzählung fühlte ich mich von einer beängstigenden, selbstzerstörerischen
Neugier getrieben. Die Lektüre der Geschichte hatte mich ziemlich mitgenommen.
Sollte diese hier etwa noch schlimmer werden?
    Die fehlenden Seiten, das
wurde immer klarer, lagen noch irgendwo zwischen Alisons anderen Papieren im
Kofferraum des Wagens. Ich brauchte ungefähr eine Viertelstunde, um den
vollständigen Text zusammenzusetzen. Dann wünschte ich Emma eine gute Nacht
(»Drück mir die Daumen«, murmelte ich), schloss das Auto ab und nahm den Stoß
Papiere mit hinauf in mein Zimmer. Ich machte mir noch eine Tasse Nescafe,
drehte zur Zerstreuung den Fernseher an und den Ton ab, legte mich aufs Bett
und begann zu lesen.
     
    FEUER
     
    Das geknickte Foto
     
    Der Zwischenfall, von dem ich
hier berichten will, liegt mehr als drei Jahre zurück. Trotzdem ist er mir noch
sehr frisch im Gedächtnis. Er hat großen Eindruck auf mich gemacht, weil er
mich von jemandem entfernt hat, dem ich eigentlich hatte näherkommen wollen.
    Es war im langen, heißen
Sommer 1976. »Langer, heißer Sommer« ist in diesem Fall kein Klischee, weil
damals in ganz Großbritannien wochenlang strahlender Sonnenschein und trockene
Hitze herrschten - die Regierung hatte sogar einen »Dürre-Minister« ernennen
müssen.
    Gegen Ende August dieses
Jahres fuhren wir mit unseren Freunden, der Familie Sim, auf einen einwöchigen
Campingurlaub in den Lake District.
    Die Sims waren im Stadtteil
Rubery in Birmingham unsere Nachbarn gewesen. Sie haben einen Sohn, der Max
heißt und auf der Grundschule der beste Freund meines jüngeren Bruders Chris
war. Mit elf waren die beiden Freunde allerdings an verschiedene Schulen
gekommen. Chris hatte einen Platz an der King William's School in Birmingham
erhalten (ich besuchte bereits eine gleichwertige Mädchenschule). Das war eine
selektive Schule, man musste eine Aufnahmeprüfung bestehen, um sie besuchen zu
dürfen. Max war bei der Prüfung durchgefallen, deshalb ging er jetzt auf eine
kommunale Gesamtschule. Zwei Jahre danach waren wir aus Rubery fortgezogen in
ein Haus mit einem großen Garten, der an den Stausee grenzte. Max und Chris
waren trotzdem Freunde geblieben, und unsere Eltern unternahmen nach wie vor
viel gemeinsam.
    Zu der Zeit des Ereignisses
waren Chris und Max sechzehn, während ich fast schon achtzehn war. In mancher
Hinsicht fühlte ich mich zu alt, um mit meinen

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