Coe, Jonathan
dass wir praktisch jeden Tag
im See schwimmen gegangen waren. Am Ende des Campingplatzes gab es einen
kleinen Kiesstrand, aber wenn man weiter in den Wald hineinging, kam man an
einen anderen, noch kleineren - der war so winzig, dass man ihn eigentlich
nicht als Strand bezeichnen konnte; er reichte gerade mal für zwei, drei
Leute, wenn sie dicht beieinander lagen. Das war unser Lieblingsplatz geworden.
Keiner der anderen Campinggäste schien sich dafür zu interessieren. Auch an
unserem letzten vollen Ferientag, spät am Freitagnachmittag, gingen wir
dorthin, Max, mein Bruder und ich. Der Himmel hatte sich bezogen, dunkle
schiefergraue Wolken hingen über Coniston Water. Die Temperatur musste seit dem
Vortag um sieben oder acht Grad gefallen sein. Jeden Tag waren wir von diesem
Strand aus in den See hinausgeschwommen, und das hatten wir auch an diesem Tag
vor, aber als wir ankamen, erschien uns diese Aussicht alles andere als
verlockend. Tatsächlich hockte Max sich sofort auf die Böschung über dem Strand
und tat kund, dass er nicht daran dachte, ins Wasser zu gehen. Chris nannte ihn
eine Memme und zog sich augenblicklich bis auf die Badehose aus. Er watete bis
zu den Knien ins Wasser und blieb abrupt stehen: Offensichtlich war es deutlich
kälter, als er erwartet hatte. Obwohl ich noch nicht wusste, was ich tun
sollte, fing ich an, mich auszuziehen. Unter T-Shirt und Jeans trug ich einen
kleinen orangeroten Bikini, den ich mir während der Frankreichreise mit meiner
Freundin gekauft und auf dieser Reise noch nicht getragen hatte. Er saß
ziemlich knapp und verdeckte nicht viel, und ich wusste - hauptsächlich wegen
der Wirkung, die er auf die französischen Jungen gehabt hatte -, dass er mir
gut stand. Die Woche war fast vorbei, ich hatte die Nase voll davon, Max
gegenüber die Unnahbare zu spielen, und hegte die leise Hoffnung, mein Anblick
in dem Bikini könnte ihn ein bisschen auf Trab bringen. Ich spürte, dass er
mich anschaute, als ich aus den Jeans schlüpfte und das Hemd über den Kopf zog,
aber als ich ihm zulächelte, wich er meinem Blick aus. »Bist du sicher, dass du
nicht reingehen willst?«, fragte ich ihn, und er schüttelte den Kopf. Jetzt
erwiderte er mein Lächeln, aber wie immer wusste man bei Max nicht recht, was
er sich dabei dachte. Ich blieb ein paar Sekunden lang stehen, schaute ihn
fragend an, die Hände in die Hüften gestützt - sorgte also dafür, dass er mich
nach Herzenslust in meinem Bikini betrachten konnte-, und als immer noch keine
Reaktion kam, wandte ich mich seufzend ab und ging langsam ins Wasser.
Gott, war das kalt. Vielleicht
war es auch nur der psychologische Effekt des grauen Himmels und des fehlenden
Sonnenscheins, aber der See fühlte sich eisig an im Vergleich zu den Tagen
davor. Absolut arktisch. Und, schlimmer noch, während Chris und ich
hineinwateten, klatschten langsam ein paar fette Regentropfen auf die
Wasseroberfläche. Der erste Regen seit Wochen! »Glaubst du wirklich, das hier
ist eine gute Idee?«, fragte ich Chris, aber ein paar Sekunden später tauchte
er unter, schwamm zu mir herüber, packte mich an den Schultern und drückte mich
auch unter Wasser. Zuerst schrie ich und trat um mich, aber dann gab ich es auf
und schwamm einfach neben ihm her, weil ich glaubte, mein Körper würde sich
nach wenigen Augenblicken an die Kälte gewöhnen.
Aber so war es nicht. Das
Wasser behielt mich in seinem eisigen Griff, und nach fünf Minuten hatte ich
begriffen, dass mir nicht warm werden würde und das Schwimmen mir keinen Spaß
machte. »Es ist zu kalt«, rief ich. »Ich friere mich zu Tode.«
»Ach, Quatsch«, antwortete
Chris, aber dann sah er, wie heftig ich zitterte. »Nein, wirklich wahr«, sagte
ich, »ich glaube, ich kriege Frostbeulen.« Ich stakste zurück zum Ufer. Chris
kam mit, und wir gingen nebeneinander her. Max wartete schon mit unseren
Handtüchern am Ufer, aber ich sah, dass nun auch sein Vater dazugekommen war.
Mr Sim stand auf dem kleinen Strand und blickte uns entgegen, aber bevor wir
das trockene Ufer erreicht hatten, rief er »Halt!«, und zog seine Kamera aus
der ledernen Tragetasche. »Stehen bleiben! So ist es perfekt.« Beide blieben
wir stocksteif stehen, bis zu den Knien im eiskalten Wasser, während er
dastand und an seinem Objektiv drehte, bis er uns scharfgestellt hatte.
Mir war ein bisschen unwohl
dabei, auch damals schon. Ich wusste nicht recht, was ich davon halten sollte:
Er war einfach ein Freund der Familie, der während
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