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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Wohnviertel, das von drei imposanten
achtstöckigen Wohnblocks an einer Hauptstraße namens Eastern Avenue überragt
wurde. Schwer zu sagen, wann sie gebaut worden sein mochten. Nach dem Krieg?
Sie sahen aus wie sozialer Wohnungsbau, allerdings der besseren Sorte. Auf
jedem Stockwerk gab es Balkone, die Häuser machten einen sauberen und
gepflegten Eindruck. »Sie haben Ihr Ziel erreicht«, verriet mir Emma. Ich dankte
ihr, parkte den Wagen in einer Bucht am Straßenrand und schaltete den Motor
aus. Dann blickte ich am mittleren der drei Wohnblocks empor, in dem sich die
Wohnung meines Vaters befinden musste. Ich spürte eine Anspannung bis in die
Zehenspitzen, war ganz steif vor Bangigkeit.
    Bevor ich hinüber zum
Haupteingang ging, nahm ich die Videokamera heraus und drehte circa zwanzig
Sekunden, ein Schwenk über den ganzen Bau, nach rechts, nach links, nach oben
und wieder nach unten. Ich benutzte die Kamera zum ersten Mal, sie schien sich
ziemlich leicht bedienen zu lassen. Ich wusste nicht genau, warum ich es tat:
wohl um meine Nerven zu beruhigen, vielleicht auch mit dem Gedanken, dass
meinen Vater das Material interessieren könnte, wenn wir uns das nächste Mal
begegneten - wann immer das war. Für Lindsays und Alan Guests Werbevideo würde
es jedenfalls nicht viel hergeben. Als ich fertig war, legte ich die Kamera
zurück ins Handschuhfach und verriegelte den Wagen.
    Es ist seltsam: Wenn ich heute
daran zurückdenke, wie ich an diesem Vormittag über die asphaltierte Fläche vor
dem Mietsblock ging, fühlt es sich an, als wäre das in vollkommener Stille
passiert. Dabei gibt es so etwas wie vollkommene Stille gar nicht mehr.
Zumindest nicht in England. Es musste also das Rauschen des Verkehrs auf der
Eastern Avenue zu hören gewesen sein, das ferne Heulen einer Polizeisirene, das
Schreien eines Babys in einem Kinderwagen zwei Straßen weiter, aber ich habe es
so in Erinnerung. Vollkommene Stille. Vollkommene Beklommenheit.
    Ich fuhr mit dem Lift in den
vierten Stock und trat auf einen dunklen tristen Korridor mit glänzendem
Linoleumboden hinaus, die Wände in deprimierendem Dunkelbraun gestrichen. Die
winzigen Fenster an jedem Ende des Korridors ließen nur eine Ahnung des grauen
Vormittagslichts herein: zwei ferne Lichtpunkte rechts und links, während ich
voller Unbehagen zur Wohnungstür meines Vaters hinüberging, die Schritte so
leicht und verhalten, dass sie kaum zu hören waren. Ich nahm die Schlüssel, die
Mr Byrne mir gegeben hatte, und versuchte einen von ihnen in das Schlüsselloch
zu stecken - das in dieser schummrigen Beleuchtung gar nicht so leicht zu
finden war. Er schien nicht zu passen. Und die beiden anderen auf Mr Byrnes
Schlüsselring auch nicht. Ich versuchte sie nacheinander ein zweites Mal, aber
zwei von ihnen passten überhaupt nicht, nur einer ließ sich mit etwas Gewalt
hineindrücken, aber nicht umdrehen.
    Mir fiel Mrs Byrnes Bemerkung
beim Abschied gestern Abend wieder ein; sie war der Meinung, ich hätte nicht
die richtigen Schlüssel bekommen. In dem Moment hatte ich ihr keine Beachtung
geschenkt, es als das Geschwätz einer verwirrten alten Dame abgetan, aber
anscheinend hatte sie genau gewusst, wovon sie sprach.
    »Scheiße!«, sagte ich laut und
probierte die Schlüssel ein drittes Mal durch. Es half nichts. Ich konnte den
einen, der zu passen schien, mit noch so viel Kraft zu drehen versuchen, das
Schloss ließ sich nicht öffnen. Nach zwei oder drei Minuten gab ich es auf. Ich
riss den Schlüssel mit einem Ruck aus dem widerspenstigen Schloss und
schleuderte den Bund wütend zu Boden.
    »Scheiße!«, sagte ich noch
mal. Wieso musste alles, was ich tat, in Wut und Enttäuschung enden, sobald es
in irgendeinem Zusammenhang mit meinem Vater stand? Ich schlug die geballte
Faust so fest gegen die verschlossene Tür zu seiner Wohnung, dass sie
schmerzte, stand dann ein paar Sekunden in der Dunkelheit des Flurs und fragte
mich, was ich tun konnte. Es erschien mir dann doch zu frustrierend, mich
einfach wieder ins Auto zu setzen und nach Norden weiterzufahren.
    Dann fiel mir noch etwas ein,
was Mrs Byrne gesagt hatte: Es gebe noch einen weiteren Schlüsselbund, bei
einer gewissen Miss Erith in der Wohnung gegenüber. Einen Versuch war es wert.
    Ich trat vor die Tür zu der
Wohnung und zögerte einen Moment, bevor ich auf den Klingelknopf drückte. Und
wenn jetzt niemand zu Hause war? Gut, dann war es eben vorbei. Aber nein - von
drinnen waren leise Stimmen zu hören. Eine

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