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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Kanäle zu überqueren, dessen Wände aus denselben Backsteinen
gemauert waren, Teile eines ausgedehnten Netzes, das wehmütig Zeugnis von
einer untergegangenen industriellen Vergangenheit ablegte. Meine Großeltern -
väterlicherseits - hatten bis Ende der Siebziger Jahre (als sie beide innerhalb
weniger Monate gestorben waren) in dieser Gegend gelebt, deshalb war sie mir
vage bekannt. Sie war Teil der verlorenen Landschaft meiner Kindheit. Auch
wenn wir meine Großeltern nicht besonders oft besucht hatten. Mein Vater hatte
seinen Eltern nicht sehr nahe gestanden. Er hatte sie auf Abstand gehalten, wie
alle anderen auch.
    Halten Sie sich im
Kreisverkehr rechts und nehmen Sie die zweite Ausfahrt.
    Ich wollte nicht durch
Lichfield fahren, nicht durch die Stadtmitte, sondern am östlichen Stadtrand
entlang. In vergangenen Zeiten, als es noch keine Autobahnen gab und keine
Umgehungsstraßen, war man bei einer Reise durch England wirklich noch durch
jede Ortschaft gekommen. Man war eine der Hauptstraßen entlanggefahren (oder zu
Pferde entlanggeritten, wenn wir die Zeit noch ein Stück weiter zurückdrehen)
und hatte vor einem Pub in der Stadtmitte gehalten (oder vor einer Poststation
oder einer Herberge oder wie immer das damals hieß). Heutzutage war das gesamte
Straßennetz darauf angelegt, genau das zu verhindern. Die Straßen waren dazu
da, einen daran zu hindern, anderen Menschen zu begegnen, und dafür zu sorgen,
dass kein Auto je in die Nähe der Plätze kam, wo jene sich versammelten. Ein
Ausdruck fiel mir ein - ein Ausdruck, den Caroline gerne in den Mund genommen hatte:
»Only connect - Geht aufeinander zu!« Ich glaube, er stammt von einem der
berühmten Schriftsteller, deren Lektüre Caroline mir immer ans Herz gelegt
hatte. Und jetzt wurde mir klar, dass, wer immer Englands Straßennetz entworfen
haben mag, genau das Gegenteil im Sinn führte: »Meidet einander!« In meinem
Toyota Prius, mit Emma als einziger Gesellschaft, war ich vom Rest der Welt
abgekoppelt. Ich war nicht nur der Notwendigkeit enthoben, mit anderen Menschen
zu reden, die Straßen sorgten sogar dafür, dass ich sie nicht zu sehen bekam,
wenn ich nicht wollte. So, wie es meinem Vater gefallen hätte - diesem
jämmerlichen alten Mistkerl.
    »Auch wenn der Typ mir total
am Arsch vorbeigeht«, sagte ich zu Emma. »Warum sollte ich überhaupt noch
Energien auf den verschwenden? Es stinkt mir, dass er Alison verjagt hat.
    Mal angenommen, wir wären an
dem Nachmittag spazieren gegangen? Was hätte daraus werden können? Womöglich
wäre sie meine Freundin geworden. Oder wir hätten uns verlobt. Und hätten
geheiratet und Kinder bekommen. Mein Leben hätte völlig anders verlaufen
können.
    Folgen Sie dem Straßenverlauf für circa achthundert
Meter.
    »Aber was soll's? >Hätte,
sollte, könnte<. Die schmerzlichsten Worte unserer Sprachen War das nicht
auch ein Zitat? Wo hab ich das jetzt wieder her?«
    Biegen Sie nach zweihundert Metern links ab.
    »Richtig - es ist aus
Carolines Geschichte. Gott, jetzt suche ich mir meine Zitate schon aus den
Erzählungen meiner eigenen Frau zusammen. Ich weiß gar nicht, warum ich sie
Erzählungen nenne, das heimtückische Aas hat doch nur ein paar Dinge aus
unserem Leben gesammelt, unserem gemeinsamen Leben - persönliche Dinge, private Dinge, verflucht! -, und
daraus ein hübsches Prosastück gemacht, über das ihre Freunde im
Literaturzirkel von Kendal in Ooohs! und Aaahs! ausbrechen können, bevor sie
sich ihre Pinot Grigios hinter den Knorpel schütten.«
    Meine Stimme war zu einem
Schreien angeschwollen. Ich wusste, dass es sich nicht gehörte, sich vor Emma
so gehen zu lassen, also drückte ich den MAP-Button, um ihrer beruhigenden
Stimme für eine Weile das Kommando zu geben und mich ohne Aufsehen und Probleme
zu der Straße leiten zu lassen, in der sich die Wohnung meines Vaters befand.
Sie lag am Rand von Lichfield. Hin und wieder konnte ich durch das Seitenfenster
einen Blick auf die berühmte Kathedrale werfen, das war aber auch der einzige
Hinweis darauf, dass ich gerade eines der reizvolleren englischen Städtchen
passierte, die Geburtsstadt des berühmten Lexikografen Dr. Johnson, wenn mein
Gedächtnis mich nicht trügt. Eine ganze Weile fuhren wir durch eine eintönige
einspurige Straße, auf beiden Seiten von Reihenhäusern flankiert, bis wir an
einen belebten Kreisverkehr kamen, an dem Emma mich aufforderte: »Ganz links halten, die erste
Ausfahrt nehmen.« Die brachte uns in ein ruhiges

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