Coe, Jonathan
Männer- und eine Frauenstimme.
Schnell, bevor ich mir
einreden konnte, dass ich im Begriff war, etwas Törichtes zu tun, klingelte
ich. Noch im selben Moment bedauerte ich es, aber jetzt war es zu spät. Es
näherten sich bereits Schritte der Tür.
Die Tür wurde geöffnet, und
vor mir stand ein kleiner Mann pakistanischer Herkunft, ungefähr Ende sechzig.
»Ja?«, sagte er.
»Oh - ich muss mich wohl in
der Wohnungstür geirrt haben, tut mir leid.«
»Wen suchen Sie denn?«
»Miss Erith.«
»Nein, da sind Sie richtig.
Bitte, kommen Sie herein.«
Ich folgte ihm einen kurzen
Flur entlang und in ein helles, aber kleines, völlig zugerümpeltes Wohnzimmer.
Drei freistehende Mahagoni-Regale, beladen mit alten gebundenen Büchern und
ramponierten Taschenbüchern, eine alte Stereoanlage (aus den Siebzigern,
schätzte ich, vielleicht sogar aus den Sechzigern), um die herum zahlreiche
Schallplatten und Kassetten lagen (keine CDs), mindestens ein Dutzend
Topfpflanzen und ein paar Bilder an den Wänden, die sogar ich als
Reproduktionen von Werken großer Meister erkannte. Zwei Lehnsessel standen
einander gegenüber, und in einem von ihnen saß eine betagte Dame, die wohl Miss
Erith war. Ich schätzte sie auf gute zehn Jahre älter als den Mann, der mir
aufgemacht hatte, wobei die Lebendigkeit, die aus ihren Augen sprach, über ihre
körperliche Gebrechlichkeit hinwegtäuschte. Sie trug braune Hosen und eine marineblaue
Strickjacke über der Bluse, deren linker Ärmel hochgekrempelt war; dem
Equipment auf dem Tisch nach zu urteilen, stand bei ihr eine Blutdruckmessung
an.
Bei meinem Anblick ging
sichtlich ein Ruck durch ihre Gestalt, und sie wäre vor Verblüffung beinahe aus
dem Sessel aufgesprungen.
»Du meine Güte«, rief sie,
»das ist ja Harold.«
»Bleiben Sie sitzen«, sagte
ich. »Ich bin nicht Harold. Ich heiße Max.«
Sie nahm mich genauer in
Augenschein.
»Na«, sagte sie, »da bin ich
aber froh. Einen Moment lang hab ich gedacht, ich werde verrückt. Aber Sie
sehen ihm sehr ähnlich.«
»Ich bin sein Sohn«, erklärte
ich ihr.
»Sein Sohn?« Sie betrachtete mich vom Kopf
bis zu den Füßen, als machte diese Information es ihr noch schwerer, mein plötzliches
Erscheinen - oder gar meine Existenz per se - als Realität zu akzeptieren. »Na
...«, sagte sie mehr zu sich selbst, »Harolds Sohn. Wer hätte das gedacht? Max,
sagten Sie?«
»Richtig.«
»Und Sie sind ohne Ihren Vater
hier?«
»Ja.«
»Ist er noch am Leben?«
»Ja, das ist er. Es geht ihm
sogar gut.« Die eine oder andere Neuigkeit schien ihr die Sprache verschlagen
zu haben. Um das Schweigen zu überbrücken, sagte ich. »Ich war gerade in der
Gegend, da hab ich mir gedacht ... Na ja, es wird Zeit, dass mal jemand in der
Wohnung nach dem Rechten sieht.« Immer noch keine Reaktion. »Ich bin unterwegs
nach Schottland. Zu den Shetlandinseln.«
Miss Eriths Gast trat einen
Schritt vor und streckte mir die Hand entgegen.
»Wenn ich mich vorstellen
darf. Ich bin Doktor Hameed.«
»Sehr erfreut, Doktor«, sagte
ich und schüttelte ihm die Hand. »Maxwell Sim.«
»Maxwell, das Vergnügen ist
ganz meinerseits. Sagen Sie Mumtaz, bitte. Margaret, soll ich vielleicht eine
Kanne Tee für deinen Besuch kochen?«
»Aber ja. Unbedingt.« Sie
schien langsam aus dem Stupor, den mein Erscheinen ausgelöst hatte, zu
erwachen. »Ja, wo sind meine Manieren? Nehmen Sie doch bitte Platz, trinken Sie
Tee mit uns. Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Sehr gerne. Aber sollten sie
nicht mit ...?« Ich deutete auf den Blutdruckmesser auf dem Tisch.
»Ach, das hat Zeit bis später.
Kommen Sie, das ist ein besonderer Anlass.«
»Sehr gut«, sagte Mumtaz.
»Dann mache ich uns eine große Kanne.«
Nachdem er in die Küche
verschwunden war, erklärte Miss Erith: »Mumtaz war mein Hausarzt, bis zu seiner
Pensionierung. Aber er kommt immer noch alle paar Wochen und schaut nach mir,
ganz aus eigenem Antrieb. Er checkt mich schnell durch, und dann fahren wir
irgendwohin zum Essen. Ist doch nett von ihm, finden Sie nicht?«
»Sehr nett.«
»Wissen Sie, wenn es mehr Menschen
seines Schlages gäbe, dann wäre unser Land nicht in diesem Zustand.«
Ich verstand nicht ganz, was
sie damit sagen wollte, und ging nicht weiter darauf ein.
»Ich habe Ihren Vater seit
über zwanzig Jahren nicht gesehen«, fuhr Miss Erith fort. »1987 ist er
fortgezogen. Er hat nur etwa ein Jahr hier gelebt. Ich hatte gerade Freude
daran gefunden, ihn zum Nachbarn zu haben, da ist er nach
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