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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Australien
abgehauen, ohne groß um Erlaubnis zu fragen.«
    »Ich weiß«, antwortete ich.
»Für mich kam es genauso überraschend.«
    »Ach, ich weiß gar nicht, ob
es mich überrascht hat. Im Nachhinein sicher nicht. Ich hab es nie besonders
klug gefunden, dass er in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist, nachdem seine
Frau gestorben war. Er brauchte einen richtigen Neuanfang. Aber ich war
natürlich sehr enttäuscht. Er war ein anständiger Kerl, und mit solchen sind
wir hier nicht gerade reich gesegnet, kann ich Ihnen sagen. Er hat mir nie
geschrieben. Nie wieder Kontakt gesucht. Der alte Halunke. Wie alt ist er
jetzt, über siebzig? Und er ist noch gut in Form, sagen Sie?«
    »Ja, ich war letzten Monat bei
ihm in Sydney. Bei der Gelegenheit bat er mich, hier vorbeizuschauen. Ich soll
ihm ... ein paar Dinge aus der Wohnung holen. Das Problem ist, dass ich nicht
reinkomme. Offenbar hat man mir den falschen Schlüssel gegeben.«
    »Keine Sorge, ich habe
irgendwo einen liegen. Hin und wieder gehe ich rüber, um nach der Post zu
sehen. Wissen Sie, es ist verantwortungslos von ihm, die Wohnung so lange leer
stehen zu lassen. Sie hätte längst weitervermittelt werden können. Eigentlich
wäre das sogar nur rechtens. Bei jedem anderen hätte ich es schon längst der
Wohnungsgenossenschaft gemeldet.«
    In diesem Moment kehrte Mumtaz
zurück, ein Tablett mit Tassen, Untertassen und einem Teller mit Keksen in den
Händen. Ich holte mir noch einen Stuhl aus einer anderen Ecke des Zimmers und
überließ ihm den zweiten Lehnsessel, in dem er offensichtlich vorher gesessen
hatte. Bald hatten wir alle Platz genommen.
    »Du hast Mr Sim nicht mehr
kennengelernt, oder?«, fragte Miss Erith ihren Arzt. »Aus der Wohnung
gegenüber?«
    »Nein, ich hatte nie das
Vergnügen«, antwortete der Doktor. »Muss wohl vor meiner Zeit gewesen sein.«
    »Max ist gekommen, um ein paar
Dinge zu holen«, sagte Miss Erith. »Ich weiß allerdings nicht was, denn viel
ist da nicht mehr drinnen.«
    »Ich hab etwas von ein paar
Postkarten gehört«, antwortete ich.
    »Ach! Natürlich! Ja, die sind
alle bei mir, es sei denn, in den letzten drei Wochen sind neue dazugekommen.«
    Miss Erith begann, sich mühsam
aus ihrem Sessel zu erheben. Mumtaz versuchte, sie davon abzuhalten.
    »Bitte, Margaret, du darfst
dich nicht anstrengen.«
    »Lass mich«, sagte sie mit
einer wirschen Handbewegung. »Ich bin doch kein Krüppel. Und jetzt wartet hier.
Ich glaube, sie liegen drüben im Gästezimmer ...«
    Während sie draußen war,
schenkte mir Mumtaz Tee ein und reichte mir mit zutraulichem Lächeln die Tasse.
    »Sie hat Temperament,
Margaret, immer noch viel Temperament. Auch ihr Körper ist noch in gutem
Zustand. Hätten Sie gedacht, dass sie schon neunundsiebzig ist? Sie sollten
sich ihre Lebensgeschichte erzählen lassen. Faszinierend. An den Kanälen
aufgewachsen. Ihr Vater hatte einen berühmten Laden für die Kanalleute, ein
paar Kilometer nördlich von hier in Weston. Das alles gibt es heute natürlich
nicht mehr, den Handel, den Verkehr. Aber stellen Sie sich das nur einmal vor!
All die Veränderungen, die sie in ihrem Leben mitgemacht haben muss. Jemand
sollte ihr ein Tonbandgerät hinstellen und ihre Geschichte für die Nachwelt
aufzeichnen. Eigentlich wäre das meine Aufgabe. Ich habe schon mal bei ihr
vorgefühlt, aber sie ist zu bescheiden. >Ach, die alten Geschichten will
doch kein Mensch mehr hören<, sagt sie. Aber solche Lebensgeschichten
sollten im Gedächtnis bleiben, finden Sie nicht? Sonst hat England bald seine
ganze Vergangenheit vergessen, und wenn das passiert, haben wir Probleme, oder
etwa nicht? Noch mehr Probleme, als wir ohnehin schon haben.«
    Schon wieder so eine
kryptische Bemerkung, aber bevor ich darüber nachdenken konnte, kam Miss Erith
zurück ins Zimmer und sagte: »Tut mir leid, dass ich sie nicht in einen Karton
oder so etwas gepackt habe.« Sie zog einen großen schwarzen Müllsack hinter
sich her.
    »Was zum ...?«, sagte ich,
öffnete den Sack und spähte hinein.
    »Sehen Sie? Ich hab sie weder
sortiert noch sonst was«, sagte Miss Erith, »weil ich ja nicht wusste, ob ihr
Vater irgendwann zurückkommt oder nicht. Und er hat mich ausdrücklich gebeten,
ihm nichts nachzusenden.«
    Der Sack war randvoll mit
Bildpostkarten. Ich langte hinein und zog aufs Geratewohl einen Stoß heraus.
Fast alle kamen aus Orten im Fernen Osten - Tokio, Palau, Singapur ... Bei
jeder einzelnen war die Adresse meines Vaters in ordentlichen

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