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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Blockbuchstaben
auf die rechte Hälfte geschrieben, die andere Hälfte war eng beschrieben mit
einer markanten, gedrängten Handschrift. Und alle trugen sie dieselbe
Unterschrift: »Roger«.
    »Moment mal«, sagte ich.
»Jetzt klingelt es leise.«
    Ja, richtig: Ich konnte mich
erinnern, dass in unserem Haus in Birmingham gelegentlich ähnliche Postkarten
eingetroffen waren. Sie waren zusammen mit den anderen Sendungen von der
Türmatte geklaubt worden, entweder von mir oder meiner Mutter, und kommentarlos
auf dem Schreibtisch meines Vaters im Esszimmer gelandet, damit er sie lesen
konnte, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam. Wie alles andere in
unserem unkommunikativen Haushalt ist diese Praxis kaum je einmal infrage
gestellt oder auch nur zur Sprache gebracht worden. Auch wenn ich mich erinnern
kann, mindestens ein Mal zu meiner Mutter gesagt zu haben, »Wer ist eigentlich
dieser Roger?«, worauf ich die simple Antwort bekam: »Soviel ich weiß, einer
von den alten Freunden deines Vaters.« Und damit hatte es sein Bewenden.
    »Die Handschrift habe ich
schon mal gesehen«, fuhr ich fort. »Und immer auf solchen Postkarten. Die
ganzen Siebziger Jahre hindurch hat Vater die bekommen.«
    »Es kommt ungefähr eine im
Monat«, sagte Miss Erith. »Und sonst fast gar nichts. Höchstens mal irgendeine
Werbepost.«
    »Wenn es Ihnen recht ist,
nehme ich sie mit.«
    »Natürlich ist mir das recht.
Ach ja, und der Schlüssel liegt da drüben, soweit ich mich erinnere. In der
Obstschüssel auf dem Bücherschrank.«
    Ich stand auf, um den
Schlüssel zu holen, und sagte: »Ich geh mal schnell rüber und schau mich nach
den anderen Sachen um. Dauert höchstens ein paar Minuten.«
    Ehrlich gesagt fürchtete ich
mich vor dieser Wohnung und wollte die Sache so schnell wie möglich hinter mich
bringen. Also ließ ich Miss Erith und Dr. Hameed ihren Tee trinken und trat
wieder hinaus in die Düsternis des Flurs. Diesmal ließ die Wohnungstür sich
problemlos öffnen.
     
    Wer noch nie in einer Wohnung
gewesen ist, in der seit über zwanzig Jahren niemand gewohnt hat, wird nicht
verstehen können, was das für ein Gefühl ist. Eben habe ich ein paar Sätze
eingetippt und wieder gelöscht, weil sie der Atmosphäre da drinnen nicht
annähernd gerecht wurden: Ich benutzte Adjektive wie >kalt<,
>spärlich möbliert< und >gespenstisch<, aber die reichen nicht aus.
Natürlich hätte ich noch ein anderes Wort benutzen können. Eins, das
möglicherweise zu dramatisch wäre. Tot. Es erscheint euch übertrieben? Okay, macht aber
nichts. Auch wenn es vielleicht ein bisschen drastisch ist - genau so hat die
Wohnung meines Vaters sich angefühlt: wie die Heimstatt eines Menschen, der vor
langer Zeit gestorben war.
    Schon nach zwei Minuten
verspürte ich das dringende Verlangen, die Wohnung wieder zu verlassen.
    Es gab zwei Schlafzimmer. In
einem stand ein Einzelbett (mit Matratze, ohne Laken), während das andere
(wesentlich kleinere) von einem Schreibtisch und einem großen selbstgebauten
Bücherschrank aus furniertem Pressspan beherrscht wurde. Alles lag unter einer
dicken Staubschicht - was sich von selbst versteht. Auf den Regalbrettern
standen etwa ein Dutzend Bücher - die Bücher, die mein Vater nicht mit nach
Australien hatte nehmen wollen -, in den Schreibtischschubladen fand ich ein
paar Papiere und Briefpapier. Der kostbare Ordner stand auf dem dritten
Regalbrett. Er war blassblau, und auf dem Rücken klebte ein Etikett mit der
Aufschrift Zwei
Duette: Ein Verszyklus und eine Erinnerung. Man konnte erkennen, dass mein
Vater das Etikett mit doppelseitigem Klebeband angebracht hatte, weil die
beiden Streifen durch das ausgebleichte Papier hindurchschienen.
    Ich nahm den Ordner vom Regal
und trug ihn in die Küche. Von dort führte eine Verandatür auf einen schmalen
Balkon, und ohne großen Kraftaufwand ließ der Schlüssel sich drehen, und ich
konnte die Tür aufstoßen. Die frische Luft tat gut. Vom Balkon aus sah ich den
endlos, ziellos auf der Umgehungsstraße kreisenden Verkehr, und dahinter
streckte sich in sanften, kaum wahrnehmbaren grauen Wellen unspektakulärer
Landschaft das ländliche Staffordshire dem Horizont entgegen. Ein leichter,
aber beharrlicher Nieselregen hatte eingesetzt. In der Ferne schlängelte sich
die A5192 durch die Landschaft, und mich überkam ein unwiderstehlicher Wunsch,
auf dieser Straße davonzufahren, zurück zur Autobahn, nur Emma und ich,
Richtung Norden nach Kendal, wo ich an diesem Abend (Gott,

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