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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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welch herrliche
Aussicht, bis jetzt hatte ich mir kaum gestattet, daran zu denken) Caroline und
Lucy wiedersehen würde, zum ersten Mal seit Monaten. In mancher Hinsicht
vielleicht der wichtigste Abend meines Lebens. Ganz gewiss eine Gelegenheit,
ein für alle Mal zu beweisen, dass ich nicht den Fehler meines Vaters
wiederholen würde, dass ich dazu in der Lage war, mit meiner Tochter eine
Beziehung zu haben, die auf etwas mehr beruhte als gegenseitiger Duldung und
dem eher zufälligen Umstand, über einen längeren Zeitraum im selben Haus
gewohnt zu haben. Ich würde (ich sprach mir die Worte stumm, aber mit
Leidenschaft vor) nicht so enden. Meine Gedenkstätte würde keine leere, ungeliebte, nicht
bewohnte Wohnung in den gottverlassenen Außenbezirken einer Stadt in den Midlands
sein.
    Entschlossen ging ich zurück
in die Küche, verriegelte die Verandatür, ließ einen letzten mitleidigen Blick
durch das Wohnzimmer schweifen, während ich es durchquerte, verließ endgültig
diese Wohnung und schloss sie hinter mir ab. Ich spürte eine seltsam
irrationale Erleichterung, als wäre ich soeben mit knapper Not einem so
freiheitsberaubenden und albtraumhaften Schicksal entkommen, dass sich nicht
einmal Worte dafür finden ließen.
     
    »Mumtaz und ich versuchen uns
gerade darauf zu einigen, wo wir heute zum Mittagessen hingehen«, sagte Miss
Erith, als ich mich wieder zu ihnen setzte und einen willkommenen Schluck
meines noch warmen Tees nahm. »Wir können nicht einfach in ein x-beliebiges
Lokal gehen, verstehen Sie? Ich weiß nicht, wie er darüber denkt, aber für mich
ist es ein Rendezvous, und da möchte man doch an einen besonderen Platz
ausgeführt werden.« Ihr Blick fiel auf den blauen Ordner auf meinem Schoß.
»Sie haben gefunden, wonach Sie gesucht haben?«
    »Ja. Ich glaube, das sind ein
paar alte Gedichte und andere Texte meines Vaters. Anscheinend ist ihm das
zweite Exemplar abhanden gekommen, und jetzt gibt es nur noch dieses.« Ich
blätterte die Seiten durch und sah, dass es zwei Abschnitte gab: einen in
Versform, der andere in Prosa. »Keine Ahnung, was ihm daran so wichtig ist. Ich
denke, ich sollte gut darauf aufpassen. Seltsamer Titel«, fügte ich mit Blick
auf die erste Seite hinzu. »Zwei Duette.«
    »Hm, verstehe«, sagte Miss
Erith. »Ein halber Eliot.«
    »Halber Eliot?«
    »T. S. Eliot. Von dem haben Sie
doch gehört, oder?«
    »Ja, natürlich«, erwiderte ich
vorsichtig und fügte hinzu, um sicher zu gehen, dass ich auch den richtigen
meinte: »Der hat die Texte für Cats geschrieben, oder?«
    »Seine berühmtesten Gedichte
sind die Vier
Quartette«, sagte
sie. »Haben Sie die nicht gelesen?«
    Ich schüttelte den Kopf.
»Wovon handeln die?«
    Sie lachte. »Um das zu
erfahren, müssen Sie sie lesen! Darin geht es um Zeit, Erinnerung und solche
Dinge. Und sie thematisieren die vier Elemente - Wasser, Erde, Feuer und Luft.
Ihr Vater war ein großer Bewunderer Eliots. Wir haben viel über ihn gestritten.
Nicht meine Kragenweite, verstehen Sie? Überhaupt nicht mein Ding. Er war
Antisemit, abgesehen von allem anderen, und das ist nun einmal unverzeihlich,
finden Sie nicht? Für mich jedenfalls. Aber von so etwas hat Ihr Vater sich
nicht abschrecken lassen. Er hat sich nicht sonderlich für Politik
interessiert, oder?«
    »Na ja ...« Ich muss sagen,
dass ich mir nie Gedanken darüber gemacht habe. Und außerdem interessiere ich
mich selbst ja auch nicht sonderlich für Politik. »Eigentlich reden wir nicht
über so etwas. Unsere Beziehung gründet sich ... na ja ... auf andere Dinge.«
    Miss Erith schloss jetzt die
Augen. Kurz hatte ich das Gefühl, sie würde einnicken, aber es handelte sich
offensichtlich um den Versuch einer Rückbesinnung.
    »Es ist nun mal so«, sagte
sie, »dass ich eine alte Linke bin, und daran wird sich auch nichts mehr
ändern. Seit ich angefangen habe, Leute wie George Orwell und E. P. Thompson
zu lesen. Ihr Vater dagegen hatte überhaupt kein politisches Bewusstsein.
Deshalb ist es wohl auch gut, dass wir unsere gemeinsame Reise nicht gemacht
haben, weil wir sie aus völlig unterschiedlichen Gründen machen wollten.«
    »Sie wollten gemeinsam
verreisen?«, fragte ich höflich nach und hoffte inständig, keine endlosen
Erinnerungen damit heraufzubeschwören.
    »Es gab ein Buch mit dem Titel Narrowboat. Damals ein
sehr populäres Buch. Der Autor hieß Rolt - Tom Rolt. Dort drüben auf dem Regal
habe ich es stehen. Er und seine Frau haben sich in den Dreißiger Jahren

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