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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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eins
von den alten Kanalbooten gekauft und sind damit eine paar Monate lang die
Kanäle rauf und runter geschippert. Er hat anschließend darüber geschrieben und
das Buch Anfang der Vierziger Jahre veröffentlicht, und das Erstaunliche ist,
dass der Laden meines Vaters darin vorkommt: Sie müssen wissen, dass ich an den
Kanälen aufgewachsen bin, und mein Vater hatte einen Laden in Weston, wo alle
Kähne einen Stopp eingelegt haben. Dort konnte man alles kaufen: jede Art von
Seilen und Tauen, die man sich nur vorstellen konnte, alle möglichen
Lebensmittel, alle Sorten von Tabak, aber auch Lampen, Geschirr, Töpfe, Kleider
- was Sie nur wollen. Und es gab natürlich Regale voller Süßigkeiten für Kinder.
Die reinste Schatzhöhle! Und ein Boot nach dem anderen legte an, und wir
kannten sie alle, die Kanalleute - es war eine eigene Welt, eine andere Welt,
eine geheime Welt mit eigenen Gesetzen und Regeln. Nur ein winzigkleiner Laden,
das Vorderzimmer eines strohgedeckten Häuschens in einer Reihe anderer
Häuschen, und ich habe schon mit acht oder neun Jahren hinterm Tresen stehen
müssen. Dad wäre begeistert gewesen, wenn er gewusst hätte, dass sein Laden in
diesem berühmten Buch erwähnt ist, aber er hat solche Bücher natürlich nicht
gelesen, eigentlich hat er gar keine Bücher gelesen - und deshalb hat er es nie
erfahren. Und ich habe es erst Jahre später herausgefunden. Mit sechzehn habe
ich mein Elternhaus verlassen, weil ich mit diesem Mann zusammen sein wollte -
ein Kahnführer, was sonst -, und ein Jahr später bekam ich mein erstes Kind,
und wir verließen die Kanäle und lebten nicht weit von hier, in Tamworth, aber
geheiratet haben wir nie - und ich kann Ihnen sagen, das allein war schon ein
kleiner Skandal -, und ein paar Jahre später kam das zweite Kind, und danach
hat dieser Mann mich verlassen. Oder wenn Sie es genau wissen wollen: Ich hab
ihn rausgeschmissen, weil er ein Versager war, sich nie um Arbeit gekümmert
hat, die meiste Zeit im Pub verbracht hat oder anderen Frauen nachgelaufen ist
- irgendwann ist mir klar geworden, dass der Mann mehr Belastung als Hilfe war.
Und so lebte ich Anfang der Fünfziger Jahre ganz allein mit zwei kleinen
Kindern in einer winzigen Wohnung, und das Einzige, was mich davor bewahrt hat,
den Verstand zu verlieren, war die Tatsache, dass ich zu lesen angefangen habe.
Natürlich hatte ich keine nennenswerte Ausbildung, aber die Vereinigung für
Arbeiterbildung hatte damals großen Einfluss, und ich ging zu Vorträgen und
Versammlungen und allen möglichen Veranstaltungen. Und so habe ich es am Ende
tatsächlich geschafft, auf die Universität zu gehen, aber da war ich schon fast
vierzig, und in dem Alter ist das etwas ganz anderes. Jedenfalls habe ich
angefangen, Bücher zu lesen, und ich weiß nicht mehr, wie alt ich war, als ich Narrowboat gelesen habe, aber meine Mum
und mein Dad müssen zu der Zeit schon tot gewesen sein, weil ich ihnen so gerne
erzählt hätte, dass ihr Laden in dem Buch vorkommt, und das konnte ich nicht
mehr.«
    Während sie eine Pause machte,
um Atem zu holen, sagte Mumtaz: »Versuch doch mal, beim Thema zu bleiben,
Margaret. Du wolltest uns etwas über Maxwells Vater erzählen. Und jetzt weiß
kein Mensch mehr, worum es geht.«
    Sie warf ihm einen spitzen
Blick zu. »Also, ich weiß
es noch. Ich wollte erzählen, dass Harold und ich diesen Plan hatten, weißt du,
dass wir uns für ein paar Wochen so ein Kanalboot mieten und der Route folgen
wollten, die dieser Rolt und seine Frau genommen hatten. 1989 wollten wir das
machen, genau fünfzig Jahre, nachdem sie zu ihrer Reise aufgebrochen waren. Es
ging darum, jeden einzelnen Ort anzusteuern, um zu sehen, was sich im Lauf der
Jahre alles verändert hatte. Mir ging es jedenfalls darum. Harold wollte sicher nur auf
dem Bootsdach sitzen, entrückt in die Wolken gucken und seine kostbaren
Gedichte schreiben. Aber für mich ist das Entscheidende an Tom Rolts Buch, und
deshalb« - noch ein Blick auf Mumtaz -»erzähle ich euch überhaupt davon, dass
es nicht nur ein Buch über die Kanäle ist. Es ist eins der erstaunlichsten
Bücher über England, das je geschrieben wurde. Rolt war ein höchst interessanter
Mann, ein Mann mit starken Überzeugungen, und auch wenn ich sagen muss, dass
politisch ein kleiner Tory in ihm steckte, hat er sich grüner Themen
angenommen, lange bevor der Begriff erfunden wurde. Und wollt ihr wissen, was
er gesehen hat - schon 1939? Er hat schon damals ein Land gesehen,

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