Coe, Jonathan
er und gab mir die
Zahnbürste zurück, »das sollte doch eigentlich ein Kinderspiel sein. Margaret!
Margaret, hast du das gehört?«
Aber Miss Erith war noch nicht
wieder bei uns. Sie erwachte nur langsam aus ihrer Abwesenheit, als hätte sie
fast vergessen, dass wir auch noch in ihrer Wohnung waren. Ihr Blick war feucht
und irgendwie fern.
»Mmmm?«
»Maxwell hat uns erzählt, dass
er auf die Shetlands fährt, Zahnbürsten verkaufen. Schöne Zahnbürsten aus
Holz.«
»Aus Holz?«, sagte sie. Die
Konzentration schien langsam zurückzukehren.
»Vielleicht ... gefällt Ihnen
die Idee«, bemerkte ich zögernd, nach den richtigen Worten suchend. »Sehen Sie,
meine Firma ist kein großes Unternehmen. Im Gegenteil, wir kämpfen gegen die
großen Unternehmen. Wir sind eine kleine Firma, und wann immer es möglich ist,
geben wir unsere Bürsten bei kleinen Firmen in Auftrag. Diese schöne Bürste
hier wurde in Lincolnshire hergestellt, von dortigen Handwerkern - Mitarbeitern
eines Familienunternehmens.«
»Tatsächlich?«, fragte sie.
»Darf ich mal sehen?«
Ich gab ihr die Bürste, und
sie drehte sie langsam, beinahe ehrfurchtsvoll ein ums andere Mal zwischen den
Fingern, als hätte sie in ihren neunundsiebzig Jahren noch nie einen so
wundersamen Gegenstand gesehen. Als sie ihn mir zurückgab, hatten sich - sofern
ich es mir nicht einbildete - ihre Augen aufgeklart und blickten mich mit einem
ganz neuen, verjüngten Leuchten an.
»Die können Sie ... Sie dürfen
sie behalten, wenn Sie möchten.«
»Wirklich?«
Unversehens zog sie die
Oberlippe zurück und entblößte eine vergilbte, aber sonst komplette, kräftige
und gesunde Zahnreihe.
»Die sind alle noch echt,
wissen Sie. Ich putze sie drei Mal am Tag.«
»Na bitte. Dann nehmen Sie
sie.«
Möglich, dass ich fantasiere.
Dass meine Erinnerung an diesen Tag mir einen Streich spielt. Aber als die
exquisite Zahnbürste jetzt wieder von meinen in ihre Hände überging, in der
andächtigen Stille von Miss Eriths Wohnung hoch über Lichfield, begleitet von
Dr. Mumtaz Hameeds gütigem Lächeln, hatte ich das Gefühl, bei einer Art
religiöser Zeremonie zugegen zu sein. Als täten wir etwas - was ist das Wort
dafür? -, als täten wir etwas, das man beinahe als - ja, jetzt weiß ich - als
... sakrale Handlung bezeichnen konnte.
Aber, wie gesagt, meine
Fantasie ging mit mir durch. Es war höchste Zeit, mich zu verabschieden und zu
meinem Auto zurückzukehren. Zu Emma. Auf die Autobahn. In die Wirklichkeit.
15
Ich nahm ein spätes
Mittagessen in einem Lokal namens Caffe Ritazza in der Raststätte Knutsford
ein. Von Lichfield aus war ich langsam weitergefahren, um Benzin zu sparen, und
traf erst nach halb drei in der Raststätte ein. Das Cafe (oder heißt es Caffe?)
war auf der ersten Etage, direkt an der Brücke, die beide Seiten der Raststätte
miteinander verband, und so konnte ich von meinem kleinen Tisch an der Fensterfront
aus den Verkehr unter mir hindurchfahren sehen. Während ich aß und den Autos
zusah, dachte ich an Dr. Hameed und Miss Erith, die zu ihrem Landgasthof
gefahren waren, um sich gemeinsam eines guten Mittagessens zu erfreuen und über
den Tod des Englands ihrer Erinnerung zu klagen. Ich war mir nicht sicher, ob
ich ihre Meinung teilte. Natürlich unterstützte ich das Ethos der Firma Guest
Zahnbürsten, aber ich persönlich war eigentlich ganz froh darüber, dass man
heutzutage in fast jede Stadt fahren und sicher sein konnte, dort dieselben
Läden, Bars und Restaurants zu finden. Der Mensch braucht so etwas wie
Beständigkeit im Leben, oder nicht? Etwas wie Beständigkeit und Kontinuität.
Sonst wird das Leben zu chaotisch, zu kompliziert. Mal angenommen, man fährt in
eine fremde Stadt - Northampton zum Beispiel - und findet dort lauter
Restaurants, mit deren Namen man nichts anfangen kann. Dann muss man mehr oder
weniger blind auswählen, nach einem Blick auf die Speisekarte oder durchs
Fenster. Und wenn es ein Griff ins Klo ist? Ist es da nicht besser, man kann
sich darauf verlassen, dass man in jeder x-beliebigen Stadt einen Pizza Express
findet, um sich eine American Hot mit extra schwarzen Oliven zu bestellen?
Dass man genau weiß, was man
bekommt? Ich denke doch. Vielleicht hätte ich mit den beiden essen gehen und
ihnen meinen Standpunkt klarmachen sollen. Warum hatte ich das nicht getan? Es
stimmte ja nicht, dass ich unter Zeitdruck stand, wie ich zu Dr. Hameed gesagt
hatte. Tatsächlich war ich mindestens zwei Stunden zu
Weitere Kostenlose Bücher