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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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früh dran. Aber wieder -
wie am Abend zuvor, als Mr und Mrs Byrne mich zum Essen eingeladen hatten - war
ich vor der Aussicht zurückgeschreckt, in Gesellschaft essen zu müssen. Ob sich
das je ändern würde? Ob es mir irgendwann einmal leicht fallen würde, ein
normales Gespräch zu führen? Dabei hatte ich eben erst einen Versuch gemacht,
als die Bedienung im Caffe Ritazza meine Bestellung aufnahm. Sie sah mich
verwundert an, als ich sie um ein Panino mit Mozzarella und Tomaten bat, also
erklärte ich ihr lang und breit, dass Panini die Pluralform des Substantivs und
es deshalb grammatikalisch nicht korrekt sei, nach einem Panini zu fragen.
Seit Neuestem war ich geradezu besessen von dieser Geschichte (und der
Tatsache, dass nirgends mehr getoastete Sandwiches serviert wurden, nur noch
Panini - sogar in Knutsford, Himmel Arsch!). Eigentlich war es mir nur darum
gegangen, ein scherzhaftes Geplänkel zwischen uns vom Zaun zu brechen,
vielleicht mit dem Tenor, dass England immer kontinentaler zu werden drohte
oder dass sich die Bildungsstandards weiter im Sinkflug befanden, aber bereits
ihre erste Reaktion war ein derart feindseliger und misstrauischer Blick, dass
ich schon befürchtete, sie würde jeden Moment den Sicherheitsdienst rufen.
Schließlich machte sie doch noch den Mund auf, beschränkte sich aber auf die
Bemerkung: »Bei mir heißen sie Paninis«, und dabei blieb es. Sie war wohl nicht
zu Scherzen aufgelegt.
    Es hatte etwas Entspannendes,
Hypnotisches, da oben auf der Raststättenbrücke zu sitzen und den Verkehr unter
sich hindurchrauschen zu lassen. Mein Freund Stuart fiel mir wieder ein, der
mit dem Autofahren aufhören musste, weil die Vorstellung, dass Millionen von
Verkehrsunfällen nur um Haaresbreite oder Bruchteile von Sekunden vermieden
wurden, ihn in den Wahnsinn trieb. Wenn man den nach Norden fließenden Verkehr
auf der M 6 beobachtete, konnte man ihn verstehen. Niemand schien das
Geringste dabei zu finden, lebensbedrohliche Risiken einzugehen, um seine
Reisezeit um ein paar Minuten zu verkürzen. Ich fing an mitzuzählen, wie oft
Fahrer herauszogen, ohne den Blinker zu setzen oder auf der inneren Spur
überholten oder dem Vordermann gnadenlos dicht auf die Pelle rückten oder
andere beim Spurwechsel schnitten. Nachdem ich über hundert solche Ereignisse
gezählt hatte, wurde mir plötzlich klar, dass ich schon über eine Stunde dort
saß und es höchste Zeit wurde, nach Kendal weiterzufahren.
     
    Folgen Sie der Autobahn, sagte Emma zum achten oder
neunten Mal.
    Die Wiederholungen störten
mich nicht. Ich erfreute mich immer noch am bloßen Klang ihrer Stimme. Mir war
selber nicht nach Gesprächen zumute, deshalb warf ich ihr alle paar Minuten
eine beiläufige Bemerkung zu - »Sieh nur, wir überqueren gerade den Manchester
Ship Canal« oder »Das das drüben im Osten müssen die Pennines sein« -, und
dann drückte ich den MAP-Button am Lenkrad, um ihr eine Antwort zu entlocken.
Für den Rest der Zeit zog ich es allerdings vor, mit meinen Gedanken allein zu
bleiben.
    Zuerst dachte ich an Lucy.
Warum wollten Menschen überhaupt Kinder haben? War es ein eigennütziger Akt
oder ein höchst uneigennütziger? Oder nur ein biologischer Primärinstinkt, der
sich weder verstandesmäßig erklären noch analysieren ließ? Ich kann mich nicht
erinnern, dass Caroline und ich je darüber diskutiert hätten, ob wir Kinder
wollten oder nicht. Um die Wahrheit zu sagen, hatten wir zu keiner Zeit ein
sehr wildes Sexualleben und waren nach ein paar Jahren Ehe einfach zu der
stillschweigenden Übereinkunft gekommen, auf Verhütungsmittel zu verzichten.
Lucy verdankte ihre Existenz einer Laune, nicht einer Entscheidung. Aber kaum
war sie auf der Welt, erschien einem ein Leben ohne sie unvorstellbar. Meine
persönliche Theorie - oder eine meiner Theorien - lautete, dass man, wenn man
seine mittleren Jahre einmal erreicht hat, so abgestumpft vom Leben ist, dass
man erst ein Kind bekommen muss, um sich selbst ein neues Paar Augen zu geben,
durch das man die Dinge anders betrachten und wieder neu und aufregend
erscheinen lassen kann. Als Lucy klein war, war die ganze Welt ein riesiger
Abenteuerspielplatz für sie, und eine Zeitlang habe ich das auch so gesehen.
Selbst so etwas Simples wie ein Gang zur Toilette wurde mit ihr zur
Entdeckungsreise. Und auch jetzt, als ich sah, wie die vielen Lastwagen mich überholten
(ich fuhr auf der inneren Spur und hatte den Tempomaten auf einhundert
Stundenkilometer

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